W E I S T Ü M E R
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Irrfahrten eines Kleinmöbels

Kjetil L. – der Freund unserer Tochter – ist uns, weil aus Norwegen stammend – ein unlösbares Rätsel. Was treibt ihn an, was möchte er, wohin will er? Die Unlösbarkeit führen wir in Ermanglung einer anderen Erklärung auf einen 'cultural gap' in den Ausmaßen des Ginnungagap (Kluft der Klüfte auch Himthusengi genannt) zurück.

Äußerlich wirkt er relativ nachvollziehbar, aber direkt unter der gemütlichen Oberfläche beginnt ein unbekannte Land, vielleicht sind es die Fjorde, die Lachse, das Fjell, immerhin hat dieses Land Hans Henny Jahnn inspiriert und die Stürme die dort von den Gletschern wehen haben bekanntlich Ophelia ins nasse Grab getrieben.

Kjetil plant in Dänemark Kriminalistik zu studieren, zu diesem Entschluß ist er gekommen nachdem unsere Tochter ihm zwei Bücher von Herrn Nesbö (Jo Nesbø?) vorgelesen hatte.

Kjetil L. lehnte das in der Überschrift erwähnte Kleinmöbel ab.

Es handelte sich dabei um ein stabiles Badezimmerschränkchen. Echtholz, Schleiflack weiß. Ich fand es – neben anderen durchaus brauchbaren Möbelstücken im Hof unseres Miethauses bei den Mülltonnen. Meine Frau, der ich davon erzählte, wies mich an es in unsere Wohnung zu tragen wo es Clara vorgestellt werden sollte, denn in der Wohnung die sie sich mit Kjetil teilt fehlt ein solches Schränkchen.

Kjetil lehnte das Möbel ohne Begründung ab, so informierte uns Clara. Vielleicht schob Clara Kjetil vor, sie hat rigide ästhetische Vorstellungen und ein solches Schränkchen – ein vollkommen sauberes und unbeschädigtes Exemplar – paßte wegen seines geschwungenen oberen Abschlußes nicht in ihr internes Regelwerk.

Da wir selbst kein Badezimmerschränkchen brauchen mußte es entsorgt werden.

Ich befand mich mitten in einem Arbeitseinsatz für die HWK Cottbus. Der erforderte es daß ich jeden Morgen um 5:10 den Zug nach der Seestadt Groß-Räschen erreichen mußte.

Mein Weg zum Bahnhof führt mich die Kantstraße entlang in Richtung Stuttgarter Platz. Stuttgarter Platz und der Abschnitt der Kantstraße der dorthin führt ist übrigens ein bekannter Kriminalitätsschwerpunkt wie jetzt offenbar wurde.

Ein Stück des Wegs unterquerte ein Gerüst das für den Dachausbau eines Mietshauses dient. Erstellt von der Firma Schwarz unter der Leitung eines Bauleiters der vor langer, langer Zeit einmal ein Kollege von mir gewesen ist, in stabilen familären Verhältnissen lebte, trotzdem gerne einen trank und seinem kleinen Frauchen ein kleines Autochen kaufte mit dem sie rumdüste (so ungefähr seine Worte).

Und dann absentierte sich das Frauchen. Warum sie das tat ist nicht mitgeteilt worden, aber es bewegt mich heute noch, und jeder Weg unter diesem Gerüst entlang holt die Erinnerung und die Irritation wieder hoch.

Er ist zum Bauleiter gemacht worden von der Mutterfirma des Betriebes in dem wir gemeinsam der Schwerkraft getrotzt hatten und wie man hört war und ist er durchaus brauchbar.

An einem frühen Montag gelang es mir – gewissermaßen als Testlauf - Restkartons von Weihnachten mittels des zur Baustelle gehörigen Schuttkontainers zu entsorgen.

Meine Frau hatte festgelegt das Schränkchen müsse nach Claras Absage entsorgt werden. Es hatte eine zeitweilige Heimstätte in unserer Abstellkammer gefunden.

Schweren Herzens schulterte ich das Kleinmöbel und schleppte es in Richtung Schuttkontainer. Es war nicht direkt leicht und ziemlich unhandlich.

Und als es so weit war brachte ich es nicht übers Herz das Möbel in den Kontainer zu werfen.

Ich stellte es vorsichtig an die Hauswand unter das Gerüst, ging weiter, schaute noch einmal zurück, da stand es einsam und verloren in seiner weißen Schleiflackpracht im ungewissen Zwielicht eines bitterkalten Januarmorgens. Ich rief mich zur Ordnung, wandte mich ab und ging zum Bahnhof.

Um die Mittagszeit rief ich meine Frau aus Großräschen an und erfuhr sie habe auf ihrem Weg zur U-Bahn das Schränkchen wieder getroffen, es stünde nun mit anderem Gegenständen vor einem osteuropäischen Trödelladen der sich im übernächsten Haus nach dem eingerüsteten eingenistet hatte.

Und am nächsten Tag informierte sie mich das Schränkchen sei weg, sicherlich verkauft, wir beide hoffen daß es in gute Hände geraten ist wo es nun treu seinen Dienst versehen kann.

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