W E I S T Ü M E R
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Der brennende Orient

 

"Ohne im Geringsten überheblich sein zu wollen kann ich heute, nachdem ich die ganzen damaligen Zusammenhänge im Osten bis in subtile Einzelheiten hinein kenne, sagen: Wäre mein Einsatz damals geglückt hätte das Kriegsgeschehen einen völlig anderen Verlauf genommen."

 

Dieser Satz stammt aus dem von Gottfried Johannes 'Onkel' Müller, dem Gründer der Bruderschaft Salem, verfaßten Büchlein "Im brennenden Orient".

Er hatte es geschafft sich von der Verwaltung des Landkreises Stadtsteinach ein ausgedehntes idyllisch gelegenes Grundstück mit fünf riesiges Gebäuden schenken zu lassen um dort die zentrale Niederlassung der Bruderschaft einzurichten.

Onkel Müller war ein Gewaltiger unter den Menschen, ein Auserwählter, ein weit über die Wolken der Gewöhnlichkeit aufragendes Monument des Sonderbaren.

Onkel Müller war sein Code-Name mit dem er von den Kindern die von der Bruderschaft betreut wurden angesprochen werden wollte.

Das Büchlein aus dem Jahre 1959 beginnt mit den folgenden Worten:

 

"Als ich im Frühjahr 1943 aus Stambul, wo ich einen Spionagering leitete, zurückgekehrt war fühlte ich ein leichtes Unbehagen."

 

Und es endet mit der Feststellung und der Forderung:

 

"Der Orient brennt! Übersieh nicht den brennenden Orient!"

 

Ein Text eingefaßt in derartige Sätze muß überragend sein.

Stellen wir uns also einen Gipfel vor der andere Gipfel überragt. Stellen wir uns vor daß Gipfel sich zu Gebirgen organisieren. Gebirge denken wir uns als vertikale örtlich begrenzte Erscheinungen.

Diese Annahme läßt Platz daß anderswo andere andersartige Gebirge ragen, daß an solchen Orten andere Gipfel mit einander wetteifern.

"Im brennenden Orient" ist ein äußerst spezieller Text der in einem sehr speziellem Genre siedelt. Ein einsamer Gipfel in einem entlegenen Gebirge das sich am Rand der erforschten Welt erhebt, eine irritierende Worteansammlung einem abseitigen Genre angehörig das sich am oder sogar hinter dem Horizont gewohnter Textproduktion verortet.

Mit der folgenden Niederschrift erfülle ich mir einen langgehegten bangen Wunsch.

Ich erinnere deutlich meine letzten Wochen an der Kulmbacher Bubenoberschule, an das Gefühl da geschehe jetzt das was einmal in unabsehbarer Ferne gelegen hatte. Das Ende von etwas, das anfangs wie ein winziges Rinnsal um sich zu sammeln einer scheinbar unendlich weit entfernten Staumauer entgegengeflossen war und nun das Reservoir bis zum Rand gefüllt und die Mauer an den Rand des Berstens gebracht hatte.

Das Ende einer viel zu langen Schulzeit, die formlose Aushändigung der Zeugnisse – formelhaftes Feierwesen hatten wir als Nachswuchs68er erfolgreich aus der kleinen Welt geschafft - fühlte sich an wie das schnelle Entweichen der Luft aus einem Ballon. Dann war es definitiv zu Ende.

Oder es fing erst an. Definitiv. Eigentlich hatte ich bereits im Jahr vorher angefangen. Aus Gründen die mir nicht mehr recht präsent sind reiste ich, zuerst in den Süden, dann in den Osten und in den großen Ferien tiefer in den Osten, nach Afghanistan.

Diese Reisen erbrachten einige brauchbare Sentenzen:

 

"Däa frißt ja mä als dä Macädäs!"

 

oder den Kurzdialog:

 

"Wollän sie küssän?" – "Nein dankä!"

 

Im ersten Falle handelte es sich um die Klage der Anführerin einer Sintisippe die mit einem Mercedes und einem Opel Kadett unterwegs war und mich ein längeres Stück Wegs mitgenommen hatte. Das kleinere Fahrzeug mußte häufiger betankt werden als der Mercedes (wahrscheinlich ein Problem verschieden großer Tankbehälter). Der Kurzdialog stammte von einem Holländer der in Jugoslawien beim Autostopp einen Homophilen getroffen und das entsprechende Angebot ohne viel Nachdenken und ohne darauf folgenden beleidigten Radau abgelehnt hatte.

Die beiden Sentenzen waren für einige Zeit Spielmaterial in den Gesprächen unserer kleinen Schar gewesen. Neu war daß beide von weit außerhalb des bescheidenen oberfränkischen Horizonts stammten.

Nach der Aushändigung der Reifebescheinigung trat ich den Ersatzdienst an. Warum es ausgerechnet die Bruderschaft Salem in Stadtsteinach sein mußte ist mir ebenfalls nicht mehr präsent, wird wohl die geographische Nähe mit Heimschlaferlaubnis gewesen sein, was wiederum bessere Bezahlung mit sich brachte.

Gottfried Johannes 'Onkel' Müller – der Gründer und der Leiter der Organisation - ließ mich eines Tages zu sich rufen (irgendwann im zweiten Halbjahr 1970) und sagte ich solle den VW-Bus nehmen, damit nach Stuttgart fahren (von Stadtsteinach aus eine Strecke von etwa 300 km) um von dort zwei Säcke Mohrrüben zu holen. Er sah mich an mit seinen Augen die wie Laserschwerter waren, so den Auftrag als einen dringend notwendigen und seinen Entschluß ihn mir zu übertragen als vollständig durchdacht und unumstößlich markierend.

Onkel Müller war ein begnadeter Komiker, über den man jedoch bei Höchststrafe nicht lachen durfte. War sein Blick wie ein Satz Laserschwerter, so war sein Rede wie der Hammer der den Meisel die 10 Regeln in die Steintafeln vom Sinai hatte schreiben lassen.

An der Adresse in einer Vorstadt von Stuttgart fand ich ein etwas heruntergekommenes Einfamilienhaus vor. Ich lud die beiden Säcke – jeder etwa 25 kg schwer – in den Wagen. Sah mich ein wenig um, wie es schien fand hier eine Art Haushaltsauflösung statt. Ich sah einen Haufen Bücher. Trat näher, es handelte sich um größere Mengen von zwei Werken, beide verfaßt von Onkel Müller.

Nämlich:

Einbruch in Kurdistan (etwa 20 mal vorhanden)

Im Jahre 1935 reist Gottfried Johannes Müller mit Fahrrad, Freund und 60 Reichsmark ins Heilige Land. Dann führt ihn die Reise nach Bagdad. Von dort aus versucht er mit seinem Begleiter, einem österreichischen Studenten, nach Kurdistan einzudringen, das seinerzeit hermetisch abgeriegelt war und aus dem kaum ein Fremder lebendig herausgekommen ist. Beim ersten Versuch gelangen sie mit Hilfe eines zwielichtigen Kurden tatsächlich ins Innere Kurdistans. Dort werden sie vergiftet und können nur mit Glück ihr Leben retten. Zurück in Bagdad lernen sie den König der Kurden kennen, der hierher ins Exil verbannt wurde. Durch die Vermittlung des Kurdenkönigs gelangen sie ein zweites Mal ins Innere Kurdistans und lernen als Gäste verschiedener Räuberfürsten Land und Leute kennen. Der spannende Reisebericht wurde erst mal 1937 veröffentlicht. Die zweite Auflage erschien 1956.Angesichts der aktuellen politischen Verhältnisse im Nahen Osten ist die Neuauflage aktueller denn je.

 Und

Im brennenden Orient (etwa 30 mal vorhanden)

 

Hier handelt es sich um die Fortsetzung des obigen Buches. Aufgrund seiner Kurdistan-Erfahrung soll Müller für das Deutsche Reich 1942-1948 Ölfelder erobern. Zusammen mit dem Kurden Ramzie fällt er in englische Gefangenschaft, aus der ihm die Flucht gelingt. Dieses Buch wurde beim ersten Erscheinen auch ins Englische, Arabische, Türkische und Kurdische übersetzt.

 

Die Beschreibungen der Bücher habe ich dem Internet entnommen. Seltsam, beim genaueren Hinsehen drängt sich der Gedanke in beiden Titeln verberge sich strafbares Tun auf: Einbruch und Brandstiftung?

Ich erbat mir eine Blechwanne der ebenfalls das Schicksal der Entsorgung bevorstand, füllte die Bücher ein, fuhr zurück nach Stadtsteinach, lieferte die Möhren ab, die Bücher aber waren meine.

Nun, ich verschlang rasch beide Texte, wobei der erste sich als ziemliche Standardware herausstellte: Onkel Müller radelt in den Orient und trifft dort Ramzi den edlen Kurdenfürsten, den Sohn des von O. Müller sogenannten Königs von Kurdistan.

 

"Ramzi, mein Ramzi"

 

(Dieses possessive Aufschluchzen findet sich häufig in den Texten).

Damals wurde gern und viel geradelt, das Bemerkenswerte an dieser speziellen Radtour war eben daß es eben Onkel Müller war der in die Pedale getreten hatte.

In der letzten Novemberwoche hatte er mich wieder zu sich bestellt, wieder die okularen Laserschwerter auf mich gerichtet und mir befohlen (wieder waren seine Worte wie Hammerschläge): "fahren sie nach Karlsruhe, sie sind ab jetzt dort der Heimleiter in unserem Obdachlosenasyl".

Ich traf auf einen aufgeweckten jungen Mann der aus den Kreisen stammte in denen Onkel Müller große Verehrung genoß.

Gerald beschrieb mir diese Kreise mittels eines Beispiels: man setzte sich dort ernsthaft mit die Frage auseinander ob die Schlange im Paradies wirklich gesprochen habe, also nicht etwa telepathisch mit Eva kommuniziert habe oder etwa gezischt habe wie Schlangen das eben so tun und Eva habe sie verstanden weil im Paradies dauernd Pfingsten war.

Da begann ich das Phänomen Onkel Müller zu begreifen. Der war eine Art Messias für eine Parallelwelt da draußen, eine Welt abseitig, verwickelt und sonderbar. Eine Kolonie von Immigranten vom Planeten Mutan.

Nun, aufgrund der Intrigen der Putzfrau endete der Einsatz in Karlsruhe mit einem Polizeieinsatz. Der das Ende meiner Tätigkeit für die Bruderschaft bedeutete. Wobei – soviel schulde ich dem Leser – dieses Ende einen mehr als bizarren Monats beendete, die intrigante Putzfrau war nur das Sahnehäubchen auf dem trüben Getränk.

Doch zurück zu den Büchern:

Ihre große Anzahl ließ mich leichtsinnig werden. Ich spürte einen missionarischen Auftrag und begann sie weiterzugeben an Freunde, Bekannte, Menschen die mir anderweitig würdig schienen. Bereits nach einem halben Jahr hatte ich den Vorrat vollständig aufgebraucht, mir war keins verblieben.

Dieser selbstverschuldete Verlust begleitete mich durchs Leben. Nicht daß ich darunter aufwendig litt, aber das Gefühl einer Fehlstelle wich nicht mehr.

Weil: 'Im brennenden Orient' ist ein Buch nur vergleichbar mit 'Der brave Soldat Schwejk'. Es ist nicht möglich aus diesen Texten gute Stellen, zitierfähige Straminsätze zu entnehmen weil beide Bücher vollständig nur aus solchen bestehen.

Was mir erst jetzt auffällt, ist daß beide sich Krieg befassen.

'Im brennenden Orient' erzählt Onkel Müller wie er beinahe den zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Er wollte mit einer Hand entschlossener Kameraden über Kurdistan abspringen die rasseverwandten weil indogermanischen Kurden zu einem Aufstand gegen die perfiden Abkömmlinge Albions bewegen, die dortigen Ölfelder unter deutsche Kontrolle bringen... Man sieht wie das hätte enden können. (denken wir an den Anfang dieses Abschnitts)

Tatsächlich klappte nichts. Das aber im monumentalen Stil.

Die Bruderschaft Salem hatte beide Bücher neu aufgelegt, aber ich scheute vor diesen neuen Ausgaben zurück, weil ich fürchtete die Texte müßten purgiert sein.

In der Gegenwart hat sich der Druck in mir, Sehnsucht nach diesem Buch erhöht. Und es gab nur einen Weg um das Ventil zu öffnen: den in das Internet.

Und ich erfahre dort: bereits 2005 hat das englische Kriegsministerium die Vernehmungsprotokolle von Onkel Müllers kecker Schar der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, in denen auch die Verhöre von Onkel Müller niedergelegt sind. Die Engländer sind der Meinung daß Onkel Müller weitaus schräger gewesen ist als alle anderen Deutschen die sie je gefaßt und verhört haben.

Beide Bücher erfahre ich weiter stehen in verschiedenen Neuauflagen zur Verfügung in mehr als ausreichenden Mengen.

Aber trotz der unendlichen Weiten des Internets nur ein Exemplar der Erstauflage des brennenden Orients.

Lange Jahre betrieb ein Antiquar den ich in Verdacht hatte der Mind-over-Matter-Fraktion anzugehören sein Geschäft in unserer Nachbarschaft. Vieles wies auf seine geistige Nähe zu Rudi Steiner hin. Trotz dessen war er aber eine freundliche zugängliche Person.

Er ist dann in den aufstrebenden Stadtteil Moabit umgezogen, vertreibt sein Angebot auch über verschiedenen Portale im Internet.

Und da finde ich das einzige Exemplar der Orginalausgabe des brennenden Orients.

Kleine Welt.

Dort kann ich endlich den Text wieder beschaffen. Endlich kann ich ein Kleinod welches ich seit langer Zeit in mir trage – ein Zitat aus diesem Buch - nachprüfen. Etwas massiv alttestamentarisches:

 

"Hütet euch, ihr slowenisches Otterngezücht!"

 

diese wuchtige Drohung, eine wichtige Stütze im ausgedehnten Gebäude meiner Erinnerung. Mit zitternden Finger blättere ich das wiederbeschaffte Büchlein durch und finde:

 

"Diese beiden Slowenen-Bauernhäuser bergen Giftschlangen in sich. Hütet euch ihr dreisten Burschen! Kommt uns nicht zu nahe!"

 

Lange noch überlege ich mir ob ich mich über mein Gedächtnis ärgern soll. Das Alttestamentarische wird zu einer simplen herpetologischen Klassifikation aber 'dreiste Burschen' die sich hüten sollen das hat ebenfalls überragende Größe.

 

Und da ist noch was: mein Exemplar enthält eine Widmung. Wir lesen:

 

"Es ist das Herz mit seinen Wunden mehr wert als eins das niemand litt"

Friedl Moog-Mogwitz


Was für ein Name! Dezember 1959! Weihnachten! Dem ist nicht hinzuzufügen.

 

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