W E I S T Ü M E R
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Eine Erinnerung verändert sich (Andy der Glaser)

Ich glaube, ich habe an anderer Stelle vom Schatzhaus der Erinnerung gesprochen. Ein Ort wo die Erinnerungen liegen, mehr oder minder geordnet, scheinbar materialisiert und griffbereit. Schmucksteine, Spielsteine, Bausteine, glänzend, klingend, stabil. Man kann nach ihnen greifen, sie befühlen, drehen und wenden, ihre Glätte oder den Widerstand ihrer Rauheit spüren. Sie fügen sich an andere Erinnerungen oder widersprechen ihnen.  

Aber es geschieht auch daß solche Schätze vom Nachher aus Veränderungen erfahren, die der Erinnerung neu Facetten zufügen.

Zwei Häuser entfernt von unserem in Richtung Innenstadt findet sich eine Glaserei, die es 1982, als wir unsere Wohnung bezogen, schon gab. Wir waren dort Kunden weil wir zu dieser Zeit intensiv heimwerkten.

Eines Tages grüßte uns ein junger, neu eingestellter Glaser, ausgestattet mit einer Brille deren Gläser so dick waren daß sie aus Colaflaschenböden hergestellt sein mußten, von 'Fränkie' .

Auf unser verblüfftes Nachfragen welcher 'Fränkie' uns da grüßen lasse erfuhren wir es sei der 'Fränkie' vom Algarve.

"Ah" sagten wir vorsichtig, nickten schlau, gingen nach Hause und riefen 'Fränkie' an. Den Bruder meiner Frau, meinen Schwager, am Algarve auch bekannt als 'The Frank' oder 'der Hippie'.

Es stellte sich heraus, daß Andy der Glaser einer der allerbesten Freunde von Frank war. Frank teilte uns mit Andy sei der Meinung der Rest des Glaserbetriebs bestünde aus ausgesprochen matten Gestalten.

"Gut zu wissen" und "Ach, wie klein die Welt doch ist!" dachten wir.

Frank, der damals dort am Rand des Kontinents ein wenig makelte, verschaffte Andy dem Glaser ein Grundstück für ein Ferienhäuschen. Was weder Andy noch Frank wußten, was die Einheimischen verschwiegen, war daß das Grundstück im Prinzip in einem trockenen Flußbett lag. Der Fluß floß seit Jahrzehnten als bescheidenes Bächlein vor sich hin und wartete auf seine große Stunde. Die kam in einem regnerischen Herbst und er überschwemmte das breite Tal einschließlich des Häuschens von Andy. Der nahm es sportlich.

Etwa so wie mein früherer Klassenkamerad Rudolf Reissenweber, dem bei einer Feier im Kulmbacher Vereinshaus ein Maßkrug auf den Kopf fiel, weil ein wohlgestimmter Spaßvogel von einer Balustrade aus diesen Bierbehälter mit einer schwenkenden Bewegung auf die unten Tanzenden entleeren wollte, wobei der Henkel abriß und der Krug sich selbstständig machte. Mein Klassenkamerad sagte vollkommen ruhig so etwas könne in einem Gedränge ja mal passieren.

Das sind Haltungen an denen man sich orientieren kann.

Wir verbrachten ein Weihnachten am Algarve. Heiligabends waren wir bei Frank und seiner Lebensgefährtin eingeladen. Ich kann mir nicht vorstellen daß man anderswo eine mürbere Stimmung erfahren als zu dieser Zeit in Portugal. Man ist sich sicher in Depression-Zentral zu sein, und fragt sich wo man Gartenzäune finden kann um tot darüber zu hängen. Kurz vor Mitternacht verabschiedeten wir uns, schleppten unser schlafendes Kind zum Wagen, und starteten in Richtung des authentischen Fischerdörfchens Ferragudo, wo wir untergebracht waren.

Es war still, feuchter Nebel füllte die Welt. Viel zu still, Die Scheinwerfer des treuen Renaults das einzige Licht in der Welt, alle Häuser die wir passierten dunkel. Kein anderes Fahrzeug auf der Straße. Aber da, zwei Lichter in der Ferne, wir nähern uns, es ist ein PKW, wir fahren aneinander vorbei. Unsere Scheinwerfer erhellen kurz die Front und das Innere des anderen Wagens. Ein deutsches Autokennzeichen.

Der Fahrer klammert sich an das Steuerrad, den Oberkörper fast waagrecht nach vorne gestreckt, das Gesicht direkt hinter der Windschutzscheibe. Die dicken Brillengläser blitzen, die Augen dahinter so starr nach vorne gerichtet, als könne so das Hinten negiert werden. Tatsächlich, es ist Andy der Glaser.

Später erfahren wir daß wir die letzten Meter einer weiten Fahrt mitbekommen haben.

Diepholz – Portimao in 24 Stunden. Andy hat jeden Meter davon gefahren.

Die 24 Stunden haben wir immer geglaubt, aber heute, da ich das hier niederschreibe und mir moderne Technik in Form des Internets zur Verfügung steht habe ich den Routenplaner von Google befragt und erfahre: Diepholz – Portimao 24 Stunden.

Es war eine schöne Erinnerung die wir in der Familie teilten, Andy der Glaser ,die letzten Meter. Diepholz – Portimao in 24 Stunden. Das Gesicht, die Brille, die heilige Nacht.

Im Dezember 2012 ist mir ein Tumor aus der linken Niere entfernt worden, ungefähr zur gleichen Zeit als man meinem Schwager Frank wegen eines entwickelten Tumors eine komplette Niere entfernt hatte. Anscheinend folgenlos für uns beide.

Nach über dreißig Jahren hat Frank anläßlich eines Besuchs in Berlin zum ersten Mal bei uns übernachtet.

Er erzählt daß Andy gerade dabei ist an Darmkrebs zu sterben und eine erneute Chemotherapie abgelehnt hat.

Das lädt auf eine wertvolle und geliebt Erinnerung eine Last die sie unbehaglich macht. Etwas was mir Jahrzehnte lang treu diente verändert sich retroaktiv und führt eine traurige Bitterkeit in diesen sichergeglaubten Besitz ein.

 

 

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