W E I S T Ü M E R
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W E I S T Ü M E R

Auf den aktuellen Stand gebracht

 

Vergangenes ist ja nicht vergangen im Sinne von Abhandenkommen. In der Psyche ist es immer präsent, nicht in seiner Materialität, es ist als Abbild dorthin codiert, sich aus kleinen Filmchen, Bildern, Klängen, Redestücken, Erinnerungen an Gerüche, an Gefühle zusammensetzend.

Ich hatte neulich Telefonkontakt mit meinem Jugendfreund F*** S***-F****. Er war soeben in China gewesen, aus quasi-beruflichen Gründen hält er sich dort öfters auf. Vor Jahren ist er dort mit einem Virus zusammengetroffen, dessen Wirken schließlich dazu führte daß er sich einer Herztransplantation unterziehen mußte.

F*** kenne ich seit 1968. Ja wir gehören zu den 68ern.

Er informierte mich über den aktuellen Stand der Dinge in Peking (nicht wirklich berauschend) und schwenkte darauf zurück zu in unser Abendland.

Er sei - sagte er - von Peking aus nach Berlin geflogen und von hier aus sogleich mit seinem  Kraftwagen nach Burgkunstadt weitergefahren.

Burgkunstadt liegt 17 Kilometer mainabwärts von Kulmbach im Maintal. F****s Mutter lebt in Untersteinach 6 Kilometer östlich von Kulmbach, dort steht das Haus welches F**** einmal erben wird.

Nach Burgkunstadt sei er gefahren weil er da Peter 'Pauli' Neumann, auch bekannt als Malle-Pauli, habe treffen müssen. Weil es fünfzig Jahre her sei daß er und Pauli (und andere die mir bedingt bekannt waren/sind) in die Kulmbacher Bubenoberschule eingeschult worden seien.

Den Begriff Kulmbacher Bubenoberschule verwende ich um nachzufragen, wegen des Jubiläums. F**** sagt nein, nein, sie seien in das Gymnasium eingeschult worden.

So ist das also, in meiner (Lebens)Erzählung habe ich die Kulmbacher Bubenoberschule und F**** das Gymnasium besucht. Wobei beide Einrichtungen von ihrer Gegenständlichkeit her deckungsgleich sind.

Daß F**** einige Zeit mit Pauli in eine Klasse gegangen war ist mir neu. Ich kannte Pauli aus anderen Zusammenhängen, kannte auch Paulis Vater, den ich einmal aus jugendlicher Rohheit heraus als 'großen Schmerzensmann' bezeichnet hatte. Wie mein Vater und auch F****s Vater litt er unter üblen Krankheiten am Bewegungsapparat.

F****s Mutter wiederum, die mir von allem Müttern die ich kennengelernt habe am zweitbesten (gleich hinter meiner Mutter) gefällt, ist wie meine Mutter praktisch unverwüstlich. Beide haben fürchterliche Krankheiten, aufwendige Operationen hinter sich, sind wieder einigermaßen hergestellt und sind mental gesehen immer noch – so in der Gegend von Mitte-Achtzig voll präsent.

Paulis Mutter – teilt F**** mit - leidet an Demenz. Was Pauli in Bedrängnis bringt, weil er zurück muß nach Mallorca, wo er lebt und wo seine Frau auf ihn wartet. Pauli wohnt, wenn er seine Mutter besucht, in seinem Jugendzimmer, der Wandschmuck - Starschnitte der BRAVO -  hängt dort seit über 40 Jahren, das Jugendzimmer als Zeitkapsel der Jugendkultur. Pauli fühlt sich seiner Mutter stark verpflichtet.

Pauli teilt F**** mit daß Hans B. – ja, genau der – jetzt in Burgkunstadt lebt, er hat das elterliche Erbe mit Hilfe von Börsenspekulationen durchgebracht, geht mental auf dem Zahnfleisch und lebt von Hartz-Vier. Eine Frau soll sich um ihn kümmern.

Pauli bietet F**** an ihn zu Hans hinzufahren, was F**** ablehnt.

Ich bin mir nicht sicher was ich empfinden soll, Erleichterung weil nichts und niemand verloren geht oder blanken Schrecken weil Hans wieder aufgetaucht ist.

In Eile während F**** redet sortieren sich meine Erinnerungen. Das Einschulungsjubiläum geht mir nicht aus dem Kopf. An Abiturjubiläen glaube ich, nicht daß ich hingehen würde – aber die Einschulung?

Vor einigen Tag läßt mir meine Mutter durch meinen Bruder ausrichten ein Klassenkamerad von mir, Reiner Herold, habe einen tödlichen Unfall gehabt, sei vom Dach geweht worden. Tatsächlich, ich bin mit ihm eingeschult worden, in die Volksschule Blaich.

Pauli war eine kurze Zeit lang der Guru des Kulmbacher Nachwuchses – ich erinnere mich an einen Gelegenheit als er den melancholischen Desperado mimte, sich in den Betten abwesender Eltern wälzte und verzweifelt

rief:

 

"bringt mer mei Pistuln...!"

 

und verlangte man möge ihm Verena W******, die jüngere Schwester von Christine W*******, zuführen um ihn zutrösten.

Die Pistole war natürlich fiktiv, die Zuführung fand nicht statt (glaube ich wenigstens) und wir verlachten Pauli roh, was einen Riß zwischen ihm und uns installierte.

Verena erfahre ich (von F****) stirbt gerade an Krebs. Später erfahre ich - Ende Juni 2012 – daß sie gestorben ist.

Das Erbe welches Hans B vergeudet hatte bestand aus dem Verkauferlös des elterlichen Hauses. F**** schwenkt nun zu dem Haus was er einst erben wird. Der Erlös wird nicht überwältigend sein. Sagt er, ich versuche ihn zu trösten daß immerhin eine gewisse Summe rumkommen wird.

Das B.sche Anwesen lag idyllisch unterhalb des Kulmbacher Friedhof an einer stillen Sackstraße. F**** erzählt daß 'Mongo' Z. einer seiner Miteingeschulten und ehemals wohnhaft im Nachbaranwesen mitgeteilt habe daß das Z.sche Anwesen ebenfalls zu einem angemessenen Preis nicht verkäuflich ist.

Mongo weiß nicht was er tun soll, sein Lebensmittelpunkt ist längst München, er wird nie mehr nach Kulmbach zurückkehren. Seine Eltern so erzählt mir F**** leben noch, sollen glücklich in verschiedenen Altersheimen leben, verschiedene und glücklich weil beide hochgradig dement sind.

Das Alter scheint eine bedrohte Veranstaltung zu sein.

Damals – zu den Zeiten der Jugend - war es so: aus zufälligen Gründen besuchten Christine W*******, Cornelia M**** (meine erste Freundin) und Iris M****-O****** (meine erste Frau) die gleiche Klasse der Kulmbacher Mädchenoberschule. Ebenfalls in diese Klasse ging auch Anne Sch., die zuerst Hans B., dann den Stögrer Buam und darauf den IM „Kleinert“ abgefaßt hatte.

Ja, wie es scheint war es eine kleine Welt gewesen.

Ich erinnere mich: es war später Abend, wir waren als kleine Schar unterwegs, die Knaben tranken und standen zusammen, die Mädchen standen zusammen und verhandelten etwas.

Wir zwangen sie uns das Verhandelte mitzuteilen. Es stellte sich heraus daß es um einen Schulaufsatz ging, Wir wurden deutlicher weil die Mädchen mit dem Thema nicht rausrücken wollten. Schließlich gaben sie nach, Thema des Aufsatzes war:

 

"Mini, Midi, Maxi – wie stehen sie als junger Mensch zu diesen Moden!"

 

Wir – die Knaben – lachten laut, ausdauernd und roh, und unbegreiflich für uns weinten die Mädchen. Der Vorfall steht seit damals in meiner Erinnerung als nicht auflösbares Rätsel.

Christine war damals eine Zeitlang mit Klaus B. dem Durchblicker und späteren Verleger befreundet. In einer Absetzbewegung verzog sie nach Leverkusen (warum ausgerechnet dorthin?) verliebte sich in einen Herren polnischer Herkunft von dem wir nur erfuhren er habe eine Vorliebe für den Reitsport. Richtete dort ein Antiquariat ein – das Zentralantiquariat – und scheint nun eine angesehene Bürgerin dieser Stadt zu sein.

Einmal als meine Frau und ich von Berlin nach Kulmbach reisten trafen wir auf der Eisenbahn F****s Mutter, eine herzensgute Person. Das Gespräch kam auf ihren Sohn, sie machte sich Sorgen weil sie ihn unversorgt sah. Hatte er doch mit einer gutsituierten Frau eine Tochter gezeugt, wobei diese gemeinsame Tochter aber als Vorwand  für ein gemeinsames Leben nicht ausreichte. Wie das eben so sein kann, im Leben. F****s Mutter grämte sich ein wenig und äußerste dann den schönen Satz:

 

"wenns sa na ner keiert hätt!" (wenn sie ihn nur geheiratet hätte)

 

So sind die Mütter.

F**** erzählt weiter Christine habe in im letzten halben Jahr einigemale angerufen um ihn mitzuteilen daß sie den aus Polen gebürtigen Herren – ihre große Liebe, so sagte sie – habe abtun müssen weil der Weibergeschichten veranstaltet habe. Sie macht F**** so etwas ähnliches wie einen Heiratsantrag. F**** erbittet sich – so erzählt er - eine halbe Stunde Bedenkzeit, wirft das Internet an und findet dort ein aktuelles Bild von Christine. Ruft zurück und lehnt das Angebot ab. Er sagt mir, früher habe sie besser ausgesehen.

Wir haben alle – sage ich ihm – besser ausgesehen, früher. Das sieht er ein und wir verabreden uns ungewiß.

Nachtrag: drei Wochen später ruft mich F**** wieder an. Diesmal erfahre ich daß Manfred "Manner/Mao" Weigl gestorben ist, an Krebs.

Noch viel später (April 2014) erfahre ich daß IM Kleinert ebenfalls die Fesseln des Irdischen abgestreift habe, und die Eltern von Mongo Z**** ebenfall gestorben sind.

 

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