W E I S T Ü M E R
W E I S T Ü M E R
W E I S T Ü M E R

Analysen, Entwürfe: Frühe Konfrontationen

 

Alle Schulen waren geschlossen und die Bücher hatten Ruh. Freudig genossen wir den Tag. Hier und dort Blumensträuße, Bänder, Fahnen, Bogenkränze. Die ließen unseren Jubel ahnen!
Die Leute machten uns eine Gasse, winkten uns aus den Fenstern zu. Für uns Kindermassen wurde die Bahn freigemacht, fröhlich zogen wir durch die Straßen. Die Musik klang fern und nah. Vorwärts, vorwärts, blast fest! Auf dem Festplatz gab's zu naschen. Flöten quiekten mäh und muh, wir kletterten, haschten, schnappten Bratwürste, schoben Schubkarren. Und die Mutter jammerte, fragte wo ihr Kind geblieben sei. Luftballons entflohen zum Himmel, die Schaukeln kamen nicht zur Ruh. Wir drängten durchs Gewimmel, die Karusselle drehten sich schneller. Kasperle wollte wissen ob wir schon da seien. Oh, wie war Gregori eine Freudenquelle!

 

Wie an anderem Ort bereits mitgeteilt wuchs ich in einer Vorstadt – Kulmbach Blaich - auf.

Diese Vorstadt bestand aus einander fremden Siedlungsgebieten, hatte eine eigene Volksschule, eine eigene Brauerei. Das Gregorifest hieß bei uns Wiesenfest was vielleicht damit zusammenhängt daß das erstere bereits seit dem 15. Jahrhundert gefeiert wurde und die Vorstadt eine eher späte Einrichtung war.

Das Programm der beiden Feste (s.o.) unterschied sich kaum.

Es gab das Übliche, Süßigkeiten, Bratwürste, Milch der man exotische Geschmacks-richtungen aufgepreßt hatte, Bier in Literkrügen für das ältere Volk.

Man konnte auch für 10 Pfennige Wundertüten kaufen. Eine Sorte enthielt etwas Popcorn, dazu schäbiges Kleinspielzeug aus Plaste, andere Tüten bargen Comics. Ich war bereits durch Micky Maus und Tarzan in die Welt der bunten Bilder eingeführt worden (aus der ich nie mehr zurückgefunden habe), aus der Lokalzeitung kannte ich Pilot Sturm (viel später stellte es sich heraus daß die übermäßige Blondheit der Akteure ihren Grund hatte darin daß diese Serie aus den Niederlanden stammte). Nebenbei bemerkt entstammte aus dieser Serie auch der Satz der meine frühen Jahre begleitete: Pilot Sturm (neben ihm Frau Sturm) blickt schräg nach oben auf eine kristalline Wucherung, die ihm gebieterisch (telepathisch) zuruft

 

"Sprich nicht protoplasmische Kreatur!"


Damals – im Alter von etwa acht Jahren - habe ich erfahren was wir Menschen sind, protoplasmische Kreaturen, weiter nichts. Das hat meine Einstellung zum Menschen an sich bestimmt.

Wundertüten enthielten auch Comics aus Heftreihen die bereits beendet und aus dem normalen Handel verschwunden waren. Deren Reste wurden so einer Zweitverwertung zugeführt.

So lernte ich eine französische Serie kennen die "Fulgur" hieß. Fulgur war ein begnadeter Erfinder der die Welt gegen das Böse (terrestrischen und extra-terrestrischen Ursprungs) verteidigte. In Heft 1 wurde sein bescheidener Anfang geschildert.

Er kommt aus der ländlichen Idylle in die große Stadt und wird dort mit Not und Elend konfrontiert. Zum ersten Mal und ist so betroffen daß er beschließt – beim Anblick von Obdachlosen die auf den Gehsteigen der Metropole herumliegen und dort den Unbilden der Witterung ausgesetzt sind – dafür zu sorgen wenn er sich durchgesetzt haben wird daß diese Gehsteige beheizt werden um so der Not der Armen Herr zu werden.

Ich war jung, in meinem Kopf war wegen der alterbedingten Flausen wenig Platz für anderes und dennoch, dieses Konzept so gegen soziale Mißstände vorzugehen kam mir wenig tauglich vor. Aber - so sehe ich es in der Rückschau – hat sich damals ein Fundament in mir installiert auf dem umfassendes Mißtrauen gegen Politik seinen Platz installieren konnte.

Und dann, wie ging die Formierung meines Denkens weiter?

Das entwickelte sich so:

In der Kulmbacher Bubenoberschule erfuhr ich von meinem Deutschlehrer daß 'der vor dem Heer herzog Herzog genannt wurde' oder daß '10 Minuten Rittmeister, ein Leben lang Zahlmeister' nach sich zog. Später teilte der gleiche Lehrer mit daß in Goethes Faust ganz schön was drin stecke.

Nun, es war eine andere, unschuldigere Zeit, weil die Zeit der unermeßlich großen Schuld hinter uns lag und alles im Schatten dieser Unermeßlichkeit gering und harmlos erschien.

An anderer Stelle bereits berichtet lernte ich Rainer R., den älteren Bruder des bekannten Keinzi R. kennen. Rainer wurde von seinen Eltern für die damalige Zeit (frühe sechziger) finanziell sehr gut alimentiert. Er konnte sich deshalb Woche für Woche Heftromane kaufen. Als ich ihn kennenlernte hatte er bereits eine stattliche Anzahl von utopischen Heftromanen der Serie TERRA (Moewig-Verlag) und UTOPIA (Pabel-Verlag) angehäuft. Aus diesen Vorräten konnte ich mich frei bedienen.

 

Einschub: anläßlich eines aktuellen Besuchs in meiner Geburtsstadt (Juli 2012) besuchte ich zusammen mit meinem Enkel den Kulmbacher Friedhof, den ich mir seit Jahrzehnten stückchenweise erschließe. Dort habe ich das Grab von Rainers Eltern gefunden, sie sind beide im gleichen Jahr gestorben. Da ich beim Einschieben bin: beim gleichen Kontrollgang kam ich auch am Grab der Familie Ständner vorbei, wo Ständners Christian seinen letzten Platz gefunden hat.


Ein Gutteil dieser Hefte bestand aus Übersetzungen amerikanischer Science-Fiction-Romane der dreißiger und vierziger Jahre. Mir fiel eine gewisse Tendenz auf:

Der Held kämpft gegen eine Diktatur und erfährt im Verlauf des Kampfes daß diese Diktatur dringend notwendig ist und Garant für das Bestehen des 'unterjochten' Gemeinwesens. Oft war es auch so daß der Diktator die Revolte selbst veranstaltet hatte um so seinen Nachfolger zu ermitteln.

Ergänzend dazu gab es Geschichten die den Protagonisten auf die eine oder andere Weise in utopische Gesellschaften – Richtung Kommunismus im Endstadium – führten (Zeitreise, Zeitdilatation durch knapp lichtschnelle Raumfahrt). Unweigerlich entdeckte der Protagonist die entsetzliche Abseite solcher Gesellschaften: der Mangel an Freiheit! Und daß sich hinter der Maske des allgemeinen Wohlergehens schlimmste Diktatur verbarg. Der Held sorgte unweigerlich dafür daß Freiheit sich durchsetzen konnte.

Eine dieser Geschichten ging so: Der Held gelangte in eine solche Gesellschaft in der – anscheinend zu Zufriedenheit aller – eine umfassende Planwirtschaft herrschte. Die Pläne wurden erstellt von Vorrichtungen die aussahen wie gigantische Kessel (geschweifte Wandung, Deckel, etwa 4 m hoch, Durchmesser etwa drei Meter). Diese Geräte waren an Fabrikationsanlagen angeschlossen, jeder Bürger konnte sich dort melden, seine Wünsche äußern und nach wenigen Momenten öffnete sich eine Klappe und das Gewünschte erschien.

War es größer gab es einen Bildschirm mit Hinweisen ob und wenn ja wie dem Wunsche entsprochen werden sollte. Es kam aber auch vor daß der Wunsch aus irgendwelchen Gründen nicht erfüllt wurde.

Aber nicht nur Wünsche konnten diesen Kesseln vorgetragen werden, nein auch Erfindungen, Verbesserungsvorschläge oder ähnliches. Das Gerät gab bekannt ob die Anregung Sinn machte, gab weiter bekannt wieviel von diesen Neuerungen produziert werden würden – weil es ja die Bevölkerung und ihre Wünsche genau kannte. Eigentlich ein ressourcenschonendes Wirtschaften.

Eine spezielle Einheit befaßte sich mit Literatur. Unser Protagonist sah dem Vorgang zu.

Dichter traten an, schoben ihre Manuskripte in eine Klappe, es summte, es ratterte, Lichter blinkten und auf dem Schirm erschien die Anzahl der zu druckenden Bücher, keins mehr, keins weniger.

Nun kam während der Held den speziellen Kessel beobachtet ein echter Künstlertyp. Im vollen Künstlerornat, lange Haare, verträumter Blick, bohemienmäßige Kleidung. Schob zitternd sein Manuskript in die Klappe, es handelt sich um Lyrik. Es blinkt, surrt und rattert und auf dem Schirm erscheint...."0"!

Der Künstler ist fassungslos. Verstört steht er da, zittert, kämpft mit den Tränen. Will nicht weichen – eine peinliche Situation.

Doch da – wieder springt das Gerät an: es blinkt (schneller, aufgeregter) es surrt (hektischer) rattert (zielgerichteter) und....

Die Klappe öffnet sich, es erscheint ein wunderbar aufgemachtes Buch, Goldschnitt, Ledereinband, die Kanten metallbeschlagen, ein echter Prachtband. Der Künstler nimmt es, drückt es an sein Herz und wankt selig davon.

Auf dem Bildschirm erscheint eine 1. Der Kessel hatte sich getäuscht. Es hatte tatsächlich einen Interessenten gegeben.

Der Held ist mißtrauisch geworden. Er forscht nach. Und findet heraus daß die Kessel ins riesenhaft gewucherte Gehirne enthalten, Gehirne die die Planwirtschaft des Utopias steuern. Und er findet weiter heraus daß der spezielle Kessel, der Lektorenkessel, das Gehirn einer Frau enthält.

Na, wie es weitergeht kann man sich ja denken. Die Gehirne werden abgeschafft, das Lektorengehirn das sich in den Helden verliebt hat, wird deshalb zum Quisling und opfert sich, die anderen Gehirne werden besiegt, die Freiheit wird wieder eingerichtet.

Leicht vorstellbar daß ein solches Konzept der Organisation eines Gemeinwesens wie in diesem Roman dargelegt auf einen Orientierung suchenden 13 jährigen wirkt. Es legt Mißtrauen in dessen Seele, Mißtrauen das nicht mehr weichen wollte. Mißtrauen gegen den Amerikanismus, Mißtrauen gegen das feile Wort Freiheit.

Druckversion | Sitemap
© HeinzMünch/µ