W E I S T Ü M E R
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Der weitgefaßte Körper

 

Eine Ruine, benannt nach einem Monarchen dessen Erscheinung um die Naht zwischen lächerlich und furchteinflößend oszilliert, als Symbol einer Stadt läßt intensiv über das Selbstverständnis eines solchen Gemeinwesens nachdenken. Eine solche Stadt muß nach ihren Abgründen befragt werden.

Der an anderen Stellen in diesem Konvolut bereits erwähnte Ralf 'Ralfi' Stange gebürtig in dieser Stadt bestand hauptsächlich ebenfalls aus Abgründen. Nicht daß man das gleich bemerkt hätte, vielleicht hätte man ihn im Vorbeigehen für einen bärtigen schlecht aufgelegten Schrat gehalten, seine Abgründigkeit erwies sich im alltäglichen Zusammensein.

Es gibt Begabungen die keinen Namen haben und deshalb nicht leicht zu beschreiben sind. Begabungen die sich an merkwürdigen Stellen manifestieren, zu Handlungen führen die unvorhersehbar sind und unpassend scheinen?

Ralfi war der einer der Schieber deren Kolonnen die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einrüsten sollten. Die Stadt hatte den Entschluß gefaßt die Ruine zu renovieren, das heißt den ruinenhaften Zustand zu konservieren und das Fortschreiten in den Verfall zu stoppen. Das wird so in der Mitte der 80er Jahre gewesen sein. Und es fand im Sommer statt.

In Ralfis Kolonne tauchte Fred Götting auf. Fred Götting aus Neukölln, Vorsitzender des Celica-21-Clubs-Sektion Berlin, wie er stolz und häufig meldete.

Celica 21 war ein Fahrzeug japanischer Produktion (in der Bevölkerung gerne Reisbrenner genannt) dessen Besitz und Gebrauch im Gewerbe als nicht vereinbar mit Menschenwürde galt. Dieses Fahrzeug und der dazugehörige Club war eines der Gesprächthemen von Fred das andere seine mittelfristige berufliche Zukunft, die so aussah daß ein Bekannter eines Verwandten dafür sorgen wollte daß er – Fred – später als Müllwerker bei der Berliner Stadtreinigung angestellt werden würde.

Der Müllwerker hieß vorher Müllmann, seit 2002 ist er upgegradet worden zur Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft.

Die Begabung Ralfis zeigte sich in seiner Fähigkeit rücksichtslos und unvermutet aus nebensächlich erscheinenden Kleinigkeiten Seltsames zu verfertigen, oder daß er an bescheidenen Vorlagen die verwegensten Schwünge und Drehungen turnen konnte. Im übertragenen Sinne.

Die Worte 'Müllwerker' und 'Celica-21-Club' hatten es ihm besonders angetan, er sprach sie mit seltsamen Betonungen aus, brachte sie in eigenartige Zusammenhänge als würde sich unfaßbar Fremdes, ja fast Lovecraftianisch Monströses dahinter verbergen. Dabei ließ er nicht locker, verbiß sich in die Worte wie ein Bullterrier.

Fred war aber mit einem dicken Fell ausgestattet, sein Bekenntnis zu seiner Zukunft in der Müllwerkerei und zum Celica-21-Club blieb fest und stetig.

Dieser Sommer war ungewöhnlich heiß. Der Gerüstbauer reagiert auf solche klimatischen Erscheinungen mit sukzessiven Ablegen der Berufskleidung womit allerdings gegen entsprechende Sicherheitsregeln verstoßen wird. Diese gehen aus von einer umfassenden Gefährdung des Arbeitnehmers durch den Umgang mit Holz und schreiben deshalb lange Hosen und Bekleidung des Oberkörpers bis an die Handgelenke vor.

Da aber der Gerüstbauer als solcher zwanghaft Regeln ablehnt kommt es häufig zu Auseinandersetzungen bei denen der Gerüstbauer regelmäßig unterliegt weil er sich doch gemeinhin den regelsetzenden Schlipsträgern gerne unterwirft.

An einem besonders heißen Tag arbeiteten die meisten Monteure auf dieser Baustelle mit nacktem Oberkörper und einige hatten auch schon die kurzen Hosen ausgepackt. Da die erfahreneren Kräfte in der Höhe arbeiteten wo Schlipsträger sich – besonders bei noch nicht mit Geländern versehenen Gerüsten - eher ungern hinwagen, konnte diese Reverenz an den Sommer unbehelligt vor sich gehen.

Fred, der als relativer Neuling auf den unteren Etagen eingesetzt war, sah das und meinte daraus die Erlaubnis sich ebenfalls zu entkleiden ableiten zu können. Den nackten Oberkörper nahm der Bauleiter noch hin. Als jedoch plötzlich Touristen aufgeregt in die Höhe zeigten, auf Fred der sich in einer Unterhose schäbigsten Dessins präsentierte (er konnte nicht auf kurze Arbeitshosen zurückgreifen), dazu aber immerhin Bauhelm, Sicherheitsstiefel und die Werkzeugkoppel trug, griff der Bauleiter ein und zwang Fred sich wieder vollständig anzukleiden.

Fred maulte etwas, folgte aber der Anweisung.

Die Hitze des Tages, die Zurechtweisung durch den Bauleiter mochten sein Gemüt etwas belastet haben. Kaum war Feierabend sprang er in seinen Celica 21 fuhr in lebhaften Stil von der Baustelle auf die Straße, bog nach links ab, bog sofort wieder nach links ab – wie gesagt in einem lebhaften Stil, fuhr auf einen Fußgängerüberweg, die Fußgänger hatten Grün, Fred rot, verfehlt knapp einen Fußgänger, kommt knapp zu stehen, der Fußgänger tritt spontan gegen den Celica 21, Fred steigt aus, schlägt den Fußgänger nieder, steigt wieder ein und fährt nach Hause.

Am Nächsten Tag kommt die Polizei auf die Baustelle um sich Fred zu greifen. Ralfi bietet sich sofort als Zeuge an – tatsächlich hat er von dem Vorfall nichts mitbekommen, nur den Bericht des empörten Fred erhalten – wie jemand gegen den Celica 21 getreten habe.

Es kommt später zu einer Verhandlung. Ralfi kommt mit einer Vermahnung davon, weil er tatsächlich nichts beitragen kann, er ist eben von seiner Natur her immer auf der Seite der Verfolgten. Das Gericht aber fühlt sich von seinem Angebot Zeugnis zugunsten von Fred abzulegen veralbert.

Die Verhandlung wird fortgesetzt. Der Richter fragt warum Fred den Fußgänger niedergeschlagen habe.

 

"Aus Notwehr!"

 

gibt Fred zu Protokoll. Der Richter fragt nach wie er das denn meine.

 

"Er hat gegen mein Auto getreten!"

 

gibt Fred weiter zu Protokoll, und wie Gespräche hinterher auf der Baustelle es klar stellen, er meint es wirklich so und kann nicht verstehen warum man sein Argument Notwehr nicht gelten läßt.

 

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