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Die Autos bleiben vorerst aus

 

Synagoge als „Gaskammer“ FAZ

Allsonntäglich wollte Santiago Sierra Autoabgase in eine ehemalige Synagoge leiten, um die Banalisierung des Holocaust anzuprangern. Es hagelte Kritik. Jetzt ist die Aktion ausgesetzt, und der Künstler will um Verständnis werben.

Nach massiver Kritik an der Kunstaktion des Spaniers Santiago Sierra, der in eine ehemalige Synagoge geleitet hatte, will die Stadt Pulheim bei Köln das Projekt aussetzen. Das frühere jüdische Bethaus soll entgegen ursprünglicher Planung am kommenden Sonntag geschlossen bleiben, teilte ein Sprecher der Stadt am Montag mit. „Wir wollen Zeit gewinnen, um Gespräche führen zu können“, sagte er. Der spanische Künstler werde anreisen, um mit Kritikern wie dem Zentralrat der Juden, der Synagogengemeinde Köln und dem Publizisten Ralph Giordano zu sprechen. „Sierra geht davon aus, daß er die Kritiker von seinem Projekt überzeugen kann“, erklärte der Sprecher der Stadt Pulheim.

Der 39 Jahre alte Spanier hatte die Abgase von sechs Autos in das frühere jüdische Bethaus im Pulheimer Stadtteil Stommeln geleitet, um damit auf die nach seiner Meinung herrschende „Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust“ aufmerksam zu machen. Diese Aktion, bei der Besucher mit Gasmaske den Betraum betreten konnten, sollte jeden Sonntag bis Ende April wiederholt werden. Am Eröffnungssonntag waren Dutzende Besucher in dem mit tödlichem Kohlenmonoxid gefüllten Synagogenraum gekommen.

Giordano: „Niedertracht sondergleichen“

Der Publizist Ralph Giordano hatte die Aktion als eine „Niedertracht sondergleichen“ kritisiert. „Hätte Sierra auch nur die kleinste innere Beziehung zu der Welt der Opfer, hätte er sich sein Pulheimer Machwerk verkniffen“, sagte der Holocaust-Überlebende. Der Zentralrat der Juden in Deutschland erneuerte seine heftige Kritik: „Das fiktive und geschmacklose Kunstspektakel verletzt nicht nur die Würde der Opfer des Holocausts, sondern der jüdischen Gemeinschaft“, sagte Generalsekretär Stephan J. Kramer.

Bei aller Würdigung der Kunstfreiheit sei die Synagogen-Aktion geschmacklos, sagte der Geschäftsführer der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Holocaust-Mahnmal) in Berlin, Uwe Neumärker. Die vom Künstler kritisierte Banalisierung des Holocaust-Gedenkens in Deutschland könne er nicht feststellen.

Stadtvertreter überrascht über Kritik

Der Bürgermeister der Stadt Pulheim, Karl August Morisse, sagte, er habe diese Kritik nicht erwartet. Eher wäre man auf Proteste aus „Täterkreisen“ eingestellt gewesen. Er und die übrigen Kulturverantwortlichen der Stadt begriffen nicht, daß dies eine Beleidigung der Opfer sein solle. Die grauenerregenden Tatsachen des Holocausts würden in dem Projekt „offen benannt“. Vielfach habe das Werk bei den Besuchern der früheren Synagoge tiefe Betroffenheit bis hin zu Tränen ausgelöst, sagte eine städtische Kultur-Mitarbeiterin: „Die Kammer provoziert die Reaktion, die jeder in sich hat!“

Die Reaktionen auf Sierras Aktion zeigten, daß er mehr Mißverständnisse als Verständnis für die Opfer des Holocaust erwecke, kommentierte die nordrhein-westfälische Landesregierung. „Die Kunst ist frei. Aber Sierra muß sich fragen lassen, ob er statt gegen die 'Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust' zu arbeiten nicht Opfer des Holocaust verletzt und den Holocaust banalisiert“, meinte Regierungssprecher Thomas Kemper.

„Sierra degradiert Geschichte zu fiktivem Spektakel“

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München, Charlotte Knobloch, sieht in der Kunstaktion von Pulheim eine weitere „niveaulose Provokation“ der Opfer. Das Geschehen reihe sich ein in eine Kette antidemokratischer und antisemitischer Vorfälle. „Den Ermordeten und den Überlebenden des Holocaust bleibt in Deutschland nichts, aber auch nichts erspart“, kritisierte Giordano weiter. Die Aktion von Sierra habe nicht das Geringste mit Kunst zu tun, sagte der Publizist und Autor („Die Bertinis“). Der Bürgermeister müsse „dem Spuk ein rasches Ende“ bereiten.

Die „Sierra-Verfehlung“ und die Reaktion der kommunalen Verantwortlichen von Pulheim machten deutlich, daß eine intensive Diskussion über neue und angemessene Formen der Erinnerungskultur „längst überfällig ist“, betonte der Zentralrats-Generalsekretär. Es gehe dabei um seriöse und angemessene Wege, ohne Schuldzuweisungen bei jungen Menschen ein Verantwortungsgefühl für die Gegenwart und Zukunft zu erreichen, betonte Kramer: „Das Werk Sierras degradiert Geschichte zu einem fiktiven Spektakel und ist dabei nur schädlich.“

 

Ein Künstler leitet Abgase in eine Synagoge


Santiago Sierras Schock-Installation bei Köln Von Marion Leske / DIE WELT

Wer Santiago Sierras jüngste Installation in der ehemaligen Synagoge von Stommeln betritt, dürfte vor allem zwei Motive haben. Erstens: Er will wissen wie es war, als sechs Millionen Juden in den Tod gingen. Zweitens: Er will mitreden können. Das Erste wird er nie erfahren. Zum Zweiten: An der Diskussion über die neue spektakuläre Arbeit des spanischen Künstlers teilnehmen kann er dennoch.

Um deutliches Unbehagen zu verspüren, genügt es, das Gebäude von außen zu sehen. Mehrere dicke PVC-Schläuche führen hinein. In den umliegenden Straßen sind sechs Autos postiert. Ihre Motoren laufen. Sierra leitet die Abgase in das einstige Gotteshaus.

Der Schock ist kalkuliert. Santiago Sierra ist bekannt für Inszenierungen, die den guten Geschmack überschreiten. So engagierte er 1999 sechs arbeitslose Kubaner, um ihnen - für 30 Dollar - eine durchgehende horizontale Linie auf den Rücken zu tätowieren. Zum Mindestlohnsatz sperrte er Menschen stundenlang in einen Pappkarton und zahlte mit Heroin, als er zwei Junkies Streifen ins Haar rasierte. Gezielt überträgt Sierra Stichproben sozialen Elends in die Welt der Kunst. Er will Europa den Zerrspiegel vorhalten, indem er seine übersättigten Bürger mit Ausbeutung, Demütigung und Leid konfrontiert.

Wer ihn beauftragt, muß mit dem Schlimmsten rechnen. Denn der Tabubruch ist Sierras Metier. In Stommeln (bei Köln) hat Sierra die schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Damit mußten die Veranstalter rechnen. Trotzdem haben sie den in Mexiko-City lebenden Spanier eingeladen, die Synagoge in Stommeln zu "bespielen". Das taten bislang 15 bekannte Künstler (von Richard Serra bis Rebecca Horn). Alle näherten sich mit dem Ort mit der notwendigen Sensibilität. Der 39jährige Sierra indes setzt auf den Skandal.

Ist sein brutaler Eingriff der adäquate Weg, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten? Seine Arbeit hat er "245 m 3 " genannt - "in Anspielung an die Leere dieser nicht mehr genutzten Synagoge". Wer sich ins Innere begibt, und das ist nur einzeln möglich, wird nicht mehr sehen als diese Leere - und die PVC-Schläuche, die hineinragen. Das Kohlendioxyd ist unsichtbar. Zuvor muß sich der Besucher einer Sicherheits-Prozedur unterziehen. Er unterschreibt eine Einwilligung, dann wird ihm eine Gasmaske aufgesetzt. Zwei Feuerwehrleute begleiten ihn.

In einer schriftlichen Erklärung gesteht der Künstler, daß sein Projekt allenfalls "die Gewißheit des individuellen Todes" erzeugen kann. Damit jedoch ist sein Versuch, das Ungeheuerliche zu simulieren, gescheitert. Was hat die Verantwortlichen bewogen, diese zynische Provokation zu gestatten? Der Bürgermeister, ein liberaler Mann, sieht darin eine Chance, "der Verdrängung und dem Vergessen entgegenzuwirken". Daß er sich angreifbar macht, ist ihm bewußt. Der Künstler habe ihn von seiner Ernsthaftigkeit überzeugt, sagt er. Die nötigen Genehmigungen wurden erteilt, die Entscheidungen des Künstlers unterstützt. Dazu gehört, daß es weder eine Einführung noch eine Vernissage gibt. Jeder Besucher, so will es das Konzept, ist mit seiner Erfahrung allein. Und mit einem Berg von Fragen, die sowohl die Glaubwürdigkeit des Künstlers als auch die Wirkung seines Werks betreffen.

Läßt sich das Leid von Millionen Menschen den Nachgeborenen sinnlich vermitteln? Als Kunstwerk ist Sierras Aktion von plakativer Vulgär-Symbolik. Wer hier von starken Bildern spricht, befindet sich in der geistigen Nähe von Karlheinz Stockhausen, der die ästhetische Dimension des brennenden World Trade Center hervorhob. Die Beklemmung des Besuchers beim Betreten der CO2-gefüllten Synagoge gleicht dem Kick beim Bungeesprung. Ein Erlebnis, das nichts gemein hat mit dem in der Geschichte singulären Völkermord und der Todes-Maschinerie der Nationalsozialisten.

Sierras Inszenierung, die bis zum 30. April außer Ostern an jedem Sonntag wiederholt werden soll, ist anmaßend. Sie verharmlost die Tat, beleidigt die Opfer. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die Aktion inzwischen als "niveaulos" verurteilt. "Wenn das die neue Form der Erinnerung ist", fragt sein Generalsekretär Stephan J. Kramer, "sollen wir dann Auschwitz wiedereröffnen und an die Besucher Gasmasken verteilen, um ein authentisches Erfahrungserlebnis zu bekommen?"

 

Beleidigung als Kunst - Synagoge in Pulheim in Gaskammer verwandelt

Talmud.de /Chajm Guski

Bei dem Skandal um die Synagoge Pulheim-Stommeln wurde natürlich den „professionellen Mahnern“ Aufmerksamkeit  geschenkt. Ein neuer Blick auf die Kunstaktion von Mitgliedern der jüdischen Gemeinden aber auch von „Skandalkünstler” Christoph Schlingensief

„Die Stadt Pulheim übernimmt keine Haftung für eventuelle gesundheitliche oder materielle Schäden. Vom Besuch ausgeschlossen sind Minderjährige, Personen mit Herz-, Kreislauf-, Lungen- und Atemwegserkrankungen, Personen mit Neigung zu Panik oder Klaustrophobie und Schwangere. Der Veranstalter behält sich vor, Interessenten vom Besuch auszuschließen." So liest sich die Haftungsentbindung, wenn Sie die Gaskammer in der ehemaligen Synagoge Pulheim Stommeln betreten wollen. Der spanische Künstler Santiago Sierra wählte dieses drastische Bild mit dem Titel „245 Kubikmeter" um sich mit der „Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust" auseinander zusetzen, wie er das nennt. Sechs Autos sollen nun regelmäßig an jedem Sonntag bis Ende April Kohlenmonoxid in die alte Synagoge von Pulheim Stommeln pumpen und so ein tödliches Umfeld für die Begehung der Synagoge schaffen. Besucher dürfen dann diesen Raum mit einer Sauerstoffmaske, in Begleitung von Feuerwehrleuten, betreten. Initiatorin dieser Aktion war die Stadt Pulheim, die in dem alten Gotteshaus seit 15 Jahren Ausstellungen mit Künstlern von internationalem Renommee organisiert. Richard Serro,  Eduardo Chillida und Rosemarie Trockel haben sich dort über das Gedenken Gedanken gemacht. Die Synagoge wird heute nur noch sporadisch zu den Hohen Feiertagen von einer liberalen jüdischen Gruppe genutzt.

Doch schon am Montag nach der ersten „Vorstellung", wie der Pressesprecher der Stadt Pulheim die Aktion nennt, setzte die Stadt den folgenden Termin aus. Man müsse erst mit dem Zentralrat in Kontakt treten um mögliche Missverständnisse zu klären.

Schon kurz nach Öffnung für die Öffentlichkeit und der Bildung langer Besucherschlangen maß sich Pulheims Bürgermeister Morrisen an, vorwegzunehmen, was Angehörige der Opfer der wirklichen Gaskammern wohl über die Aktion denken mögen, wenn Schaulustige daraus ein Event machen. Er könne sich nicht vorstellen, dass sich jemand beleidigt fühlt, weil die Sinnhaftigkeit des Werks offenkundig  sei. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland Stephan J. Kramer empfand das dagegen anders: „Wer meint, es sei Kunst, eine ‚Gaskammer' durch hochgiftige Autoabgase, noch dazu in einer ehemaligen Synagoge, zu simulieren, um damit vermeintliche Authentizität zu vermitteln, missbraucht schamlos die Kunstfreiheit. Das fiktive und geschmacklose Kunstspektakel verletzt nicht nur die Würde der Opfer des Holocausts sondern der jüdischen Gemeinschaft. Dies hat absolut nichts mit Erinnerungs- oder Gedenkkultur zu tun", so Kramer. Der Publizist Raplph Giordano sprach gegenüber dem Deutschlandfunk von einer „Niedertracht sondergleichen". Die Landesregierung folgte diesen Stimmen des Protests. Die Kunst sei zwar frei, sagte Regierungssprecher Thomas Kemper (CDU). „Aber Sierra muss sich fragen lassen, ob er, statt gegen die 'Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust' zu arbeiten, nicht Opfer des Holocaust verletzt und den Holocaust banalisiert.". Doch nicht nur die offiziellen Mahner, die traditionell von dem Medien befragt werden, waren entsetzt. Henryk M. Broder schien im Urlaub zu sein, denn er erhob keine schwere Anklage. Wieder in Deutschland ist dagegen der gerade aus Brasilien zurückgekehrte Christoph Schlingensief, ebenfalls für skandalträchtige Kunstaktionen bekannt. Er war nicht sonderlich begeistert und schien eher fassungslos gegenüber des „billigen 1:1 Bildes" dessen sich Santiago Sierra bedient. Wenn man die Abgase in den Keller eines ehemaligen Gestapo-Hauses eingeleitet hätte, dann hätte man den Vorgängen noch Bedeutungskraft beimessen können, doch die Einleitung in eine Synagoge sei „deckungsgleich mit der Vorstellung in dunkelsten Kanälen" und kein drastisches Bild. Er frug sich laut, warum man nicht Abgase in den deutschen Reichstag einleite, denn das sei wirklich ein drastisches Bild. Gerade dort, in dem „von Gutmenschen bewohntem Haus" neige man ja zum zwanghaften Vergangenheitsabwasch. Symbol dafür sei das Holocaust-Mahnmal in der Mitte Berlins. „Es steht in einer Sicherheitszone, zwischen dem Hotel Adlon und der britischen Botschaft. Und wenn dann demnächst noch die amerikanische Botschaft das ganze Gebiet dichtmacht, dann kann man das Mahnmal nur noch mit Arier-Nachweis und als Nichtmoslem betreten. Man kann dann aber immer noch immer aus dem All per Webcam sehen, dass wir gute Deutsche sind und auch ein Holocaust-Mahnmal besitzen!"  Er frage sich, warum Sierra kein wirkliches Zyklon B einleite. Er verwende selber gerne obsessive Bilder, diese Bilder enthalte  die Installation von Sierra nicht, hier sei die Darstellung einfach „zu flach".

Der Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Kiel, Walter Pannbacker, rät denjenigen, die ein „authentisches Erlebnis suchen" in einem Brief an die Stadt Pulheim, der könne ja zuhause den Gashahn aufdrehen und den Kopf in den Ofen legen. „Wie wäre es denn mal mit Hakenkreuzfahnen an Rathäusern als ‚Kunstaktion'? Schließlich ging das Grauen in den Gaskammern von genau den Schreibtischen aus, an denen jetzt Leute sitzen, ‚die nicht glauben mögen, dass sich jemand beleidigt fühlt'.

Auch Elisabeth Berkes-Großer, Bürgerin des Erftkreises und Tochter von ungarischen Holocaustüberlebenden, zeigt ihren Unmut mit kurzen aber drastischen Worten: „Meine Angehörige mussten Gas einatmen. Ich kann diese Aktion nicht billigen. Wieso Gas in eine Synagoge? Will der Künstler das den Juden noch einmal antun? Warum sucht er nicht einen anderen Ort aus, einen Bus, eine Kirche, das Rathaus von Stommeln? Das ist der bekannte Alltag, da wird die eigene Person gepackt. Statt dessen müssen wieder einmal ermordete Juden für eine fragwürdige Aktion herhalten, eine nicht mehr existierende Synagoge scheint da passend zu sein. Über tote Juden kann man trauern, da kann man Betroffenheit zeigen. Eigentlich sind wir, deren Angehörige keine Gasmasken hatten und nicht von helfenden Feuerwehleuten betreut wurden, gefordert, unsere Gefühle mitzuteilen.". Genau diese Gefühle gehen häufig in dem unter, was Christoph Schlingensief den „Pathos-Chor" nennt und die wohl auch in Pulheim, übrigens der Wahlkreis von Jürgen Rüttgers, eher unerwünscht sind. Über die Fortführung des Projekts nach dem Sonntag mit der ausgesetzten „Vorstellung" orakelt Pressesprecher Springob nur: „Wenn der Künstler ein Agreement herstellt, dann führen wir das Projekt fort." In einem anderen Fall müsse man dann erneut beraten; ganz so als gäbe es die zahlreichen Briefe von empörten Jüdinnen und Juden und natürlich auch vieler nichtjüdischer Deutscher mit gesundem Menschenverstand nicht.

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