W E I S T Ü M E R
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W E I S T Ü M E R

Wie sich das anderswo verhält

 

Im Mai 2012 unternahmen wir (ich, meine Ehefrau und Herr Axel Witte) eine Reise nach Kastilien. In einem Landstädtchen das durch Weltliteratur (Schiller) und gehoben-gepflegte Musik (Joaquín Rodrigo) eine gewisse Berühmtheit erhalten hat, wurden wir Zeugen einer lokalen Festlichkeit (Fiestas de San Isidro Labrador). Die Veranstaltungen zogen sich über mehrere Tage hin, an verschiedenen Stellen der Ortschaft waren Bühnen aufgebaut auf denen Darbietungen stattfanden.

Auf der Placa de la Constitucion wurde ein Musical für Kinder aufgeführt, das zu unserem Erstaunen erst um 21:30 begann. Der Titel: ESPAPIRIFACTICO. Die Darbietung – der Verantwortliche / Hauptakteur, ein gewisser Raul Charlo – strotzte von manischer Energie, sogar wir als abgeklärte ältere Mitteleuropäer konnten uns dem was da von der Bühne ins Publikum geschleudert wurde nicht entziehen. Wir waren tief beeindruckt.

Nach der Rückkunft habe ich mich an das Nacharbeiten des Erlebten gemacht, beschaffte mir – was nicht leicht war – eine hard copy des Musicals und machte mich an das Übersetzen der Texte. Mein Lieblingsstück ist:

 

BAILANDO CON LOS DEDOS

 

Meñique, anular
corazón, índice y pulgar
meñique anular
corazón, índice y pulgar

ESTE PUSO UN HUEVO
ESTE LO ROMPIO
ESTE ECHO EL ACEITE
ESTE LO FRIO
Y ESTE TAN GORDITO...
SE LO COMIO

Tanzen mit den Fingern

 

Der Kleine, der Beringte

Der Herzfinger, der Zeiger und der Daumen

Der Kleine, der Beringte

Der Herzfinger, der Zeiger und der Daumen

Dieser bringt ein Ei,

dieser schlägt es Auf

dieser gießt öl ein

Dieser brät es

Und der ziemlich Dicke

der ißt es auf!

 

 

Ich erinnerte mich an einen Reim aus frühesten Kindertagen:

 

Das ist der Daumen

Der schüttelt die Pflaumen

Der hebt sie auf

Der trägt sie nach haus

Und der Kleine, der Schlingel

Ißt sie alle auf.

 

Bevor ich mich an das Vergleichen beider Texte machen konnte fiel mir (nach 60 Jahren!) etwas an dem deutschen Reim auf. Ich telefonierte mit meiner Mutter, die mir nach kurzem Nachdenken Recht gab, auch ihr war dieser merkwürdige Sachverhalt nie aufgefallen.

Der Daumen ist in diesem Reim nimmt eine Sonderrolle ein, er hat keinen Anteil an dem Vorgang in dem es um das Beschaffen und den Verbleib von Steinobst (Pflaumen) geht. Aber welche Rolle spielt der Daumen dann in diesem Mikrotext?

Ist er der Vorgesetzte, der Besitzer des Pflaumenbaumhains, der Couponschneider, ein Vagabund, einer der sich abseits stellt, sich verweigert? Wir wissen es nicht, wir erfahren es nicht.

Es wird auf ihn gewiesen, es wird mitgeteilt, er sei der Daumen. Es wird einfach das Offenbare genannt. Der Daumen ist der Daumen ist der Daumen.

Dann beginnt es, die handelnden Gliedmaßen treten auf: der Zeigefinger reckt sich um die Pflaumen zu schütteln, der Mittelfinger bückt sich um sie aufzuheben, und der Ringfinger macht sich auf den Weg um sie nach Hause zu tragen. Dort wartetet schon der kleine Finger um die Früchte aufzuessen.

Was wird damit in die zu formende Seele des Kleinkindes gelegt, welches Versprechen, wie wirkt sich diese Prägung auf das spätere Leben aus? Wie wirkt sich die Sonder-stellung des Daumens, dessen Rolle und Funktion aber nicht definiert wird auf das Grundwissen des Kindes aus? Obwohl er ja eigentlich aufs engste verbunden ist mit unserem Schritt vom Tier zu Mensch:

Der Daumen (lat.: pollex) ist der erste und stärkste der fünf Finger einer Hand und nimmt unter den Fingern aufgrund seiner anderen Bewegungsmöglichkeiten eine Sonderstellung ein.

Im Gegensatz zu den anderen Fingern besteht er anatomisch nur aus zwei Fingergliedknochen, Phalanx proximalis und distalis. Funktionell kann aber ebenso der Os metacarpale I der Mittelhand dem Daumen zugehörig gezählt werden. Dessen Artikulation mittels des Daumensattelgelenks ermöglicht die erhöhte Bewegungsfreiheit des Daumens. Am distalen Ende des Os metacarpale I befindet sich häufig ein Sesambein.

Funktionelle Möglichkeiten

Die Oppositionsstellung des Daumens ermöglicht den Faustschluss und verbessert die Greiffunktion entscheidend – ein evolutionärer Entwicklungssprung gegenüber nichtmenschlichen Primaten. Diese können den Daumen nur adduzieren, nicht opponieren. Daher ist die Muskulatur des Daumens beim Menschen auch sehr differenziert ausgeprägt und es sind insgesamt neun Einzelmuskeln mit verschiedenen Funktionen um ihn herumgruppiert. Dies grenzt den Daumen deutlich von den anderen Fingern ab. Auch die für die Bewegung und Empfindlichkeit des Daumens verantwortlichen Hirnareale sind deutlich größer als die der anderen Finger. Der Daumenfingernagel wächst am langsamsten von allen und rollt sich, wenn man ihn lang genug wachsen lässt, zu einer Spirale zusammen. Einige Menschen haben die Fähigkeit, das Endglied des Daumens beinahe im rechten Winkel zurückzubiegen. Diese Eigenschaft ist rezessiv vererbt und stellt keine Abnormität dar.

 

Erfährt das Kind so daß es Wesen gibt die nur vorhanden sind? Wie erfährt das Kind wie man mit solchen Wesen umgeht?

Im Gegensatz zu den Pflaumen, die definitiv pflanzlicher Natur sind, die Jahr für Jahr wiederkommen (so sich als Nahrung für die Fruktarier eignen, weil die Ernte den Baum nicht schädigt), sieht man das, was auf die Finger bezogen den Kindern beizubringen ist, in Spanien etwas anders.

Die Verhältnisse sind verkehrt. Es ist der kleine Finger (menique) der das Ei beschafft, ein tierisches Produkt, was in gewisser Weise den Pflaumen ähnelt, schon die Form hat eine gewisse Ähnlichkeit, das Huhn nimmt auch durch die Wegnahme des Eis nicht direkten Schaden (das schreckliche Schicksal der Legehennen einmal ausgeblendet).

Der Ringfinger (anular) schlägt das Ei schon einmal auf, bevor(!) der Mittelfinger (corazon) Öl in die Pfanne gießt (es ist fraglich ob das sinnvolle Küchentechnik ist). Der Zeigefinger (Indice) wiederum brät das Ei, und der kleine Fette (Pulgar) ißt es auf.

Daß der Daumen in Spanien Vertreter des Zehrstands ist wirkt wirklicher als die deutsche Variante. Kann es sein daß die bescheidene Erscheinung des Kleinen der einseitigen Pflaumendiät geschuldet ist, der spanische Daumen jedoch durch die Eiweiß/Fettdiät zu seinem stattlichen Aussehen kommt?

Oder – wir sind wieder in Deutschland – manifestiert sich in diesem bescheidenen Vers der Gedanke der sozialen Marktwirtschaft. Drei Starke (Finger) versorgen einen Schwachen (den kleinen Finger). Wobei wie bereits erwähnt das Geheimnis des Daumen ungelöst bleibt. Vielleicht soll angedeutet werden daß immer Reste bleiben die sich der Klärung entziehen. Spanien hat ein anderes Wissen um gesellschaftliche Wirklichkeit: der Stattliche mästet sich auf Kosten der anderen, ja es sogar so daß der Kleine (Finger) das Ei herbeischaffen muß.

Das ist der Sachstand. Die Repräsentation der Finger in der frühen Kindheit. Was wir daraus machen liegt an uns. Ist da etwas was uns mit den Spaniern verbindet oder etwas was uns von ihnen trennt?

Und der Daumen... der deutsche Daumen ragt als Generator eines nicht lösbaren Rätsels in unsere mentale Bühne.

Oktober 2013

In Erfüllung eines lange gehegten Wunsches finde ich im Internet die deutschen Volksbücher herausgegeben von Karl Simrock, und in Band 9 - Abteilung Kinderbuch - komme ich auf folgenden Reim:

 

Däumling hat Ochsen kauft,

Fingerling hat beigeschafft,

Langemann hat todt gemacht,

Kleinjäckchen hat Wurst gemacht,

Kleinteufelchen hat sie all geß.

 

Wir erfahren daß auch in der Welt der Fleischesser gilt daß der kleine Tückebold zum Schluß der Begünstigte ist. Und daß ihm etwas Teuflisches anhängt.

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