W E I S T Ü M E R
W E I S T Ü M E R
W E I S T Ü M E R

Eine Überlegung

 

Es läßt sich nicht bestreiten daß ich den Worten, dem Reich der Zeichen verfallen bin. Ich glaube nicht daß es einen direkten Zugang zu dem gibt was die einen als Sein, andere als Wirklichkeit bezeichnen. Ich glaube das Sein, die Wirklichkeit manifestiert sich uns als Text, und wir, die in der Hauptsache selber aus Text bestehen lesen, schreiben aus/in diesen anderen Text und werden von dem über/umgeschrieben.

Und da sind immer Erinnerungen, bestimmte Erinnerungen, die häufig nach oben drängen, die ich häufig nach oben hole.

In diesem virtuellen Museum, in diesem Versuch einer Anordnung solcher Erinnerungen, geht es um welche die in zitierfähige Sätze (Straminsprüche) münden.

Diese Erinnerungen gewinnen so eine erhöhte Materialität, sie kondensieren um diese Sätze, werden so lagerbar und transportfähig.

Jedoch im Niederschreiben stellte es sich heraus daß es auch Erinnerungen gibt die nicht in Sätzen sich niederschlagen. Lange wußte ich nicht was ich damit anfangen sollte, weil mein Arbeitsplan ja eigentlich als Bedingung für das Niederzuschreibende diese Sätze erforderte.

Da war zum Beispiel der 'Rauchfußsche Hund'. Zu wichtig als Denkfigur um darauf zu verzichten. So entschloß ich mich ihn, entgegen meiner Planung, in das Museum aufzunehmen.

Anläßlich eines aktuellen (Nov 2012) Krankenhausaufenthaltes dachte ich in den langen Nächten die ein solcher Aufenthalt mit sich bringt viel über das Projekt Weistümer nach, mir fiel dieses und jenes ein, weitere Erinnerungen die ich verworfen hatte, weil sie sich nicht in mein Konzept fügen wollten.

Lag also da und dachte und dachte und begriff wie das ist: da ist Erlebtes, Verstandenes, Unverstandenes, kaum Verstandenes, Anblicke, Worte, Sätze, Erzählungen, Aufklärungen, Gesichter und ihre Ausdrücke, Körper und ihre Haltungen, Lachen (fröhliches, gemeines) und das legt sich ab in dem was wir Gedächtnis nennen, fermentiert dort, taucht auf und nieder und es geschieht daß ab und zu etwas gerinnt, erstarrt, feste Form annimmt und Teil des psychischen Skeletts wird. Und durch diesen Prozeß entsteht Erzählbares, Niedeschreibbares.

Nachdem ich das gedacht hatte bemühte ich mich diese Gedanken meiner Erinnerung so anzuvertrauen daß sie mir am nächsten Tag noch zur Verfügung stehen würden, überließ ich mich darauf dem freien, ungezügelten Denken, was nah am Schlaf und fast schon Traum ist.

Und stand vor den Sauermannshäusern...

Zwei große Wohnblöcke gegenüber dem Haus in welchem ich aufgewachsen bin. Jedes Gebäude hatte zwei Treppenhäuser, das eine fünf Etagen, das andere vier.

Sie wurden Sauermannshäuser genannt nach einer örtlichen Fleischfabrik und dienten früher als Eishäuser. Denn hinter diesen Häusern gab es abgesenkte Wiesen die winters überflutet wurden. Sobald sich eine genügend dicke Eisschicht gebildet hatte wurde diese in handliche Blöcke geschnitten und in den Kühlhäusern für den Sommer gelagert.

Mit dem Aufkommen moderner maschineller Kühlung war diese Eisernte nicht mehr notwendig. Die Häuser wurden umgebaut zu Wohnhäusern für Angestellte und Arbeiter der Firma Sauermann.

Da gab es die Familie Merkel, der der Vater "Mecko" Merkel vorstand, eine hauptsächlich alberne Figur die sich aber ab und zu Mut antrank um ein wenig familiären Radau zu machen. Nach Rückkunft aus dem Wirtshaus in Hochstimmung bedingt durch Trinken weckte er seine Familie auf und ließ sie um den Küchentisch marschieren. Der Sohn Othmar ging mit meinem Vater in eine Klasse.

Mein Vater wurde nicht müde zu erzählen wie das gewesen war als Othmar einmal krank war. "Mecko" riß von einer Zeitung den Rand ab, schrieb darauf "Merkel verhindert!" und gab den Streifen meinen Vater mit der ihn in der Schule präsentieren sollte, als Entschuldigung.

Das ist ja nun eine winzige Geschichte. Warum sie meinen Vater eine solche übergroße Freude machte habe ich nie erfahren. Und – betrachtet man sie als Weistum, was könnte sie uns weisen? Was lernen wir daraus? In welchem Gespräch, an welcher Stelle, zu welchem Zweck könnten wir "Merkel verhindert!" einsetzen. Nach der nächsten Bundestagswahl vielleicht? Wenn die Wahl günstig(?) ausgeht?

Das aber nur nebenbei, als Anlauf gewissermaßen. Reden möchte ich eigentlich von der Familie Vogel. Herr Vogel war ein ausnehmend zurückhaltender Mann, still, zuvorkommend, den Blick meist zu Boden gesenkt. Seine Frau mehr das was man eine Maschine nennen könnte. Groß, umfangreich, wuchtig. Herr Vogel neben ihr die Personifizierung der Belanglosigkeit. Beide lebten ruhig nebeneinander her und es gab absolut nichts zu berichten von den beiden, was der lokalen Bevölkerung – die Vogels waren zugezogen –nicht recht war. Denn damals war das Fernsehen noch nicht erfunden und die Menschen mußten sich eigene Geschichten anfertigen.

Herr Vogel hatte aber eine Besonderheit: nämlich eine schlohweise Strähne in seinem ansonsten schwarzen Haar. Der Grund dafür war, so sagte man, ein Granatsplitter in seinem Gehirn. Und ab und zu veranlaßte der Splitter den Herrn Vogel reinen Tisch zu machen.

Dann schlug er übergangslos die Wohnungseinrichtung zu Klump, warf die Reste aus dem Fenster und verdrosch seine Frau.

Da kamen die Ureinwohner natürlich gut auf ihre Kosten.

Am nächsten Tag war Herr Vogel wieder die alte, zurückhaltende Piepsmaus und es war als sei nie etwas geschehen.

Einschub: In Kulmbach Blaich lebte ein ähnliches Ehepaar namens Türk, ein unscheinbarer Mann und eine majestätische Ehefrau, allerdings hatten beiden einen Haufen Kinder. Herr Türk noch unspürbarer als Herr Vogel aber er war mit einem ungewöhnlichen Spitznamen ausgestattet: man nannte ihn nämlich den "Alpenveichelafresser" (Alpenveilchenfresser). Weil er nichts lieberes kannte als sich einen anzutrinken um dann jedes erreichbare Alpenveilchen aufzuessen. Was ihn zu einer Attraktion in Kneipen machte, man spendierte ihm gerne Bier und Alpenveichela. Meine Vater berichtete gerne von solchen Ereignissen, jedoch erfuhren wir Kinder nie ob er auch die Knollen dieses Gewächses mit verzehrte.

Meine Mutter, die große Analytikerin die alles was geschah unermüdlich in Einzelteile und Möglichkeiten zerlegen konnte und zerlegte, die Löcher in die Scheinbarkeit schlug um das Dahinter zu seinem Recht kommen zu lassen, meinte daß Herr Vogel sich den Granatsplitter nahm um, ab und zu, so wie einen Urlaub, wie einen Ausgang um auch mal einen Beitrag zu leisten. Aber wer weiß wie es wirklich war.

Ich fühlte immer daß der Vogelsche Grantsplitter etwas erklären konnte. Etwa in der Richtung daß es Eigenes gibt das nicht bestreitbar, nicht greifbar ist und das sich nicht aufbraucht und einem Möglichkeiten schafft.

Auf der gleichen Etage wie das Ehepaar Vogel wohnte auch die Familie Hübner. Herr Hübner, Frau Hübner, Kind Klaus Hübner, Oma Hübner die aber nicht Hübner sondern Christa mit Nachnamen hieß.

Klaus war so alt wie mein Bruder, sie waren Spielkameraden und so etwas wie Feunde. Daher war mein Bruder ab und zu bei Klaus zum Spielen eingeladen.

Klausens Lieblingssüielzeug war die "Zappelhose". So wurde eine abgelegte Unterhose der ziemlich umfangreichen Großmutter genannt die man Klaus zum Spielen überlassen hatte. Das Spiel ging etwas so daß Klaus sich auf den Boden legte und agil in der Unterhose umherkroch, sie aufspannte, sie durch eine Beinöffnung betrat und durch die andere verließ. Sie sich zeltartig über Kopf und Körper zog und wie ein fröhliche Maulwurf durch die Öffnungen tauchte, und dabei das Gewebe in alle Richtungen und Formen zerrte.

Das war die Zappelhose. In unserer Familie immer ein Thema weil vollkommen außerhalb des Horizonts unserer Vorstellungen.

Zappelhose: ein schönes Wort, und immer war ich der Meinung daß es für etwas stehen müßte (Vorhandenes aber hinter meinem Horizont).

Jetzt, aktuell verschafft mir ein Blick in das Internet das überraschende Wissen daß es da draußen (wo immer das sein mag) von Zappelhosen nur so wimmelt. Was ist da an mir vorübergegangen, diese langen Jahre, muß ich nun einsehen daß ein Gutteil der Menschen mit Zappelhosen ausgewachsen ist, daß Zappelhosen wichtige Erziehungsinstrumente sind? Daß das Unwägbar-Undeutbare das ich an vielen Menschen wahrnehme die Folge des Aufwachsens unter dem Einfluß dieses Gerätes ist?

Was fang ich aber nun mit der Zappelhose (als Begriff, als Denkfigur) an?

Ist vielleicht das Fernsehen so etwas wie eine Zappelhose für die hoi polloi, und Heiner Müller die Zappelhose für die hoi oligoi?

Und die Kultur ist nicht der gesellschaftliche Kitt, sondern die allgmeinen Zappelhose, überkommen, abgetragen, abgelegt von den Vorfahren, ein Kleidungsstück das ausgezeichnete Körperregionen hüllt und verdeckt. Weit geschnitten, unausfüllbar, geräumig und nachgiebig?

 

Im Nachlauf:

Wie oft habe ich mich als junger Mensch damals an langen, sonnigen Nachmittagen (Nachmittage die wie stille langsame Wasser waren) in Wirtshäuser gesetzt, als einziger Gast, an einen Tisch im Sonnenlicht, meist führte ich die Gedichte von Dylan Thomas mit mir (warum eigentlich) und trank Bier, in diesen wunderbaren Halblitergläsern, die sich kühl und beschlagen anfühlten und vielversprechend, und im Trinken wußte ich daß nichts aber auch gar nichts dagegen sprach weitere Biere zu trinken (ich wußte es war mehr als genug vorhanden) und das bittere Getränk glitt die Kehle hinab und bildete sie mit seiner Kühle ab. Und eine zittrige Benommenheit, kaum spürbar, stellte sich ein.

Und nun, nach so vielen Jahren (Vierzig?), wage ich es mir vorzustellen daß da ein Alpenveilchen auf dem Tisch gestanden hat. Und wie ich – warum auch immer – vorsichtig danach lange und mit den Nägeln ein kleines Stückchen von einem Blatt abknipse und es neugierig an den Mund führe.

Natürlich weiß ich nicht wie Alpenveilchen schmeckt (ist ja nur eine Fantasie) und wie dieser Geschmack sich mit dem des Bieres verträgt.

Stelle mir weiter vor wie ich das eine Blatt aufesse, die anderen Blätter, die Blüten, die Stengel und wie schließlich der kuglige Fruchtknollen übrigbleibt.

Vielleicht grabe ich meinen Fingernagel hinein, entnehme eine kleine Probe, schmecke sie. Entschließe mich aber die Knolle zu verschonen.

Es bleibt noch den Rest der Pflanze, das Zeugnis meines botanischen Versuchs, verschwinden zu lassen. Ich stelle den Blumentopf unter die Bank und schiebe ihn mit den Hacken weit in den Schatten, rufe die Bedienung, schaue ihr fest in die Augen und zahle.

Draußen ist immer noch Nachmittag, die Wärme verbindet sich mit der zittrigen Benommenheit in mir und relativ festen Schrittes gehe ich meiner Wege.

 

Druckversion | Sitemap
© HeinzMünch/µ