W E I S T Ü M E R
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W E I S T Ü M E R

Ein Rhapsode wird erzählt

 

Als der halbe Liter Bier noch 90 Pfennige kostete – so etwa am Ende der 60er Jahre in der kleinen Stadt abseits der großen Straßen – konnte man an einem Samstag Abend ohne sich finanziell zu übernehmen bis zur Sperrstunde um 24:00 10 Halbe Bier trinken.

Das waren Tage die aus der Erinnerung harmlos herscheinen.

Unsere kleine Schar saß zusammen, trank, suchte – im Fortschreiten des Abends immer häufiger - die Toiletten auf und erzählte sich etwas. Wir waren allesamt Schüler der Kulmbacher Bubenoberschule, allerdings besuchte jeder eine andere Klasse und im Zusammensitzen waren wir eine Wagenburg, unsere Rücken gegen den Rest der Gäste gerichtet.

Der Rest der Gäste? Das waren andere Schüler, ältere, jüngere, es waren Bürger, ehemalige Schüler, ein undeutliches Gemisch das hier friedlich zusammensaß.

Daß es die anderen gab nahm unsere kleine Schar nur am Rande wahr. Wir wollten uns Geschichten erzählen, in denen wir die Hauptrollen spielten. Die Entstehung dieser Geschichten war unklar, denn wir hatten ja nie Gelegenheit gehabt hatten etwas zu erleben, weil wir immer mit Geschichtenerzählen beschäftigt waren.

Wir hatten – so schien es uns dunkel – die Zukunft vor uns. Diese Zukunft, die jetzt natürlich in der Vergangenheit liegt, stellte sich als ein Bündel von Zukünften heraus. Jedem kam Eigenes zu, ob verdient oder unverdient, ist nicht zu klären.

Jedes Mitglied der Schar ging weg von Kulmbach, einige früher, andere später, manche kamen zurück um zu bleiben, andere zu häufigen Besuchen. Mir ist meine Heimatstadt zunehmend fremd geworden, meine Besuche wurden immer seltener.

Helmut 'Helm' Müller unternahm einem studienbedingten Ausflug nach Regensburg. Kam schnell wieder zurück, blieb für immer, seine Eltern starben, er lebte alleine im geerbten Haus in einer Vorstadt, ging jeden Tag in die Innenstadt, in der Hand eine Jutetasche. Er trank sich durch alle entsprechenden Organe bis zur Bauchspeicheldrüse und starb schließlich einen erbärmlichen, einsamen Tod. Auf dem letzten seiner täglichen Wege ist er bei schlechtem Wetter von einem Auto todgefahren worden. Den Fahrer traf keine Schuld.

Helmut war ein begnadeter Erzähler.

Meist war es so daß mir das von ihm Erzählte aus zweiter, ab und an auch aus dritter Hand zukam. Ein Jugendfreund, der ebenfalls in der Hauptstadt lebt, erzählte mir was Helm ihm erzählt hatte, oder überlieferte mir Geschichten die ihm ein weiterer Freund zugetragen hatte: was dieser von Helmut gehört hatte, was der beim abendlichen Trinken in Wirtshäusern mitbekommen und zu mitteilbaren Geschichten geformt hatte.

In diesen Wirtshäusern hatte es – kein Wunder – außer uns noch weitere Besucher gegeben, die im Gespräch eigene Geschichten ausgetauscht hatten. Helmut der nun allein war konnte sich jetzt, weil sich nichts anderes anbot auf diese neuen Geschichten konzentrieren.

Vor allem eine Figur gab es da, eine Figur mythischer Größe die unserer Aufmerksamkeit entgangen war – die Folge unseres hermetischen Verhaltens.

Diese Figur hieß Wiegel (Vorname später ermittelt als Heiner) und war Abkömmling eines Kulmbacher Installationsbetriebes. Er war älter als wir, fünf Jahre etwa, war von Beruf etwas Technisches. Das füllte ihn nicht. Dazu war er noch rothaarig.

Er sah sich irgendwie künstlerisch veranlagt. Er berichtete gern – so teilte man mir mit – von intensiven Situationen.

Berühmt war seine Nummer vom sterbenden Hündchen:

 

"Waßt scho, dann liechts auf deina Orm, des Hündla, und es schaut dich oa, und dann spürst wie sei klans bissla Lehm aus na nausgieht..."

(Stell dir vor, wie es auf deinen Armen liegt, das Hündchen, wie es dich anschaut, und wie du spürst wie sein kleines bißchen Leben aus ihm schwindet....)

 

Meine Lieblingsnummer war die von der morgendlichen Dusche ( jetzt beim Niederschreiben fällt mir der entfernte Zusammenhang auf – die Dusche und seine Abkunft aus einem Geschlecht von Installateuren):

 

"....no dann hommer an geraacht, und sinn dann naus nein Garten, naggert, und homm dezu Tarkus veh Emersen Leik end Paamer ghert und die Sunna, die Sunnastrohln sin auf die Haut geprasslt wie a Duschn..."

(nun, dann haben wir etwas geraucht, und sind raus, in den Garten, nackt, dabei haben wir Tarkus von Emerson, Lake und Palmer gehört, und die Sonne, die Sonnenstrahlen sind auf die Haut geprasselt wie eine Dusche...)

 

Wenn ich mich mental ein wenig gehen lasse, die Moderatorstäbe aus meinem psychischen Reaktor ziehe (meinem inneren Affen ein wenig Zucker gebe) kann ich mich genau daran erinnern wie ich diese grandiosen Vorträge vom Wiegel Heiner selbst gehört und gesehen habe, sein Gesicht eine Bühne, überfüllt mit hyperaktiven Schauspielern. Aber es ist nicht leicht die Stäbe oben zu halten, immer droht die Gefahr des mentalen Melt-Downs und wenn sie zurückgleiten, höre ich zuerst wieder Helmut und dann andere die mir Helmuts Geschichten erzählen.

Wiegliana

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