W E I S T Ü M E R
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Graf Mariza und ein nasses Erwachen

 

Mitte der 80er, Coburg (Nordbayern / Oberfranken) berufsbildende Maßnahme "der gemeine Gerüstbauer (Rüster) soll in den Stand des 'Geprüften Gerüstbau-Obermonteurs' erhoben werden".

Diese Maßnahme liegt einige Jahre nach der in welcher Bieber seinen großen Auftritt hatte, es handelt sich jetzt um eine Art Aushebung zum Volkssturm, jeder im Gewerbe der noch nicht upgegradet ist wird nun von dieser Maßnahme erfaßt.


Der Bildungsstand des durchschnittlichen Gerüstbauers ist mäßig und lückenhaft, Wissen um das Phänomen Operette zum Beispiel fehlt vollkommen. Operette gilt als etwas im Reich der Tucken Angesiedeltes, vielleicht – zieht der Gerüstbauer in Erwägung - hat sie vor langer Zeit mal die Augen und Ohren der Großeltern zum Glänzen bzw Glühen gebracht.

Daher konnte kein Gerüstbauer etwas anfangen mit dem Namen Czygan, keiner kannte das (unseren Eltern/Großeltern) bekannte Lied "Komm, Czygan, komm, Czygan, spiel mir was vor..." aus der Operette "Gräfin Mariza".

Wie sicherlich bekannt verwendet man in Frauenkreisen gerne die Aufforderung jemand 'möge nicht die Gräfin Mariza machen' (also diese Person solle sich bitte mal bescheidener verhalten), das hat seine Entsprechung zum Kreis der Männer wo es die Bitte gibt jemand solle nicht den Colonel oder auch den Cotton machen.

Für den Gerüstbauer ist der Kontakt zum anderen Geschlecht traditionell ein problematisches Unternehmen. Vielleicht ist auch deshalb Gräfin Mariza unbekannt.

Also Czygan Josef - der nebenbei bemerkt von seinem Aussehen her nicht im mindesten an einen Angehörigen des fahrenden Volkes erinnerte, er sah aus eher aus wie dem Musterbuch der Rassenlehre entstiegen, ein Prachtexemplar der dinarischen Rasse - war Teil der aufzuschulenden Schar.

Vielleicht hatte er eine Vision gehabt, eine dringende Ahnung, vielleicht hing es damit zusammen daß er wieder in sein heimatliches Bundesland (Bayern) fahren mußte, aber in den fränkischen Norden der von Bayern seit etwa 200 Jahren besetzt und nieder gehalten wird. Das bayrische (dinarische?) Blut in seinen Adern, die nur bedingt vertraute Scholle, die Ungewißheit wie die Besetzten auf den Besuch eines Besatzers reagieren würden (Jockel war in München geboren) das legte dringend Bewaffnung nahe. Daher hatte er seine treue – durchbohrte - Schreckschußpistole mitgebracht.

Czygan Josef, das war sein Name, genannt wurde er aber Jockel.

In Coburg anläßlich der Upgraderei waren größere Scharen von Gerüstbauern aus Berlin versammelt. Davon der Hauptteil Monteure aus unserem Betrieb denen es bisher gelungen war sich dieser Maßnahme zu entziehen.

Jeden Abend wurde – wie es die Sitte gebietet - intensiv getrunken, jeder nach seinen Fähigkeiten und da war keiner der aufgehört hätte bevor er nicht sein persönliches Limit erreicht hatte. Diese Vorgehensweise bringt es mit sich, daß die Schar der Trinkenden mit dem Voranschreiten des Abends in die Nacht kleiner wird.

Jockel lag im Bett (die anderen die in den Zimmern auf dem gleichen Flur untergebracht waren hatten ihr Limit noch nicht erreicht) und schlief. Ein ungewisses aber überdeutliches Gefühl holte ihn aus dem Schlaf. Er wurde wach, wurde hellwach und spürte daß er in einer ausgedehnten Nässe lag. Und wußte – sofort, kein Zweifel möglich – man hatte ihm ins Bett gepißt! Er sprang auf, nahm die Pistole aus der Schublade, öffnete die Tür und trat energisch auf die Schar der Zecher zu.

 

"BEIM LEBEN MEINER MUTTER, ICH MACH EUCH PLATT!"

 

rief er. Fuchtelte mit der Pistole, ein Schuß löste sich, die Decke des Flurs war tödlich getroffen. Die Zecher sprangen auf, rannten an ihm vorbei, er ihnen nach. Der Hausmeister informierte die Polizei. Jockel jagte die Zecher nun ein wenig durch das nächtliche Industriegelände von Coburg. Die Zecher flüchteten sich in das Gebäude der Feuerwehr. Jockel hinterher, die Feuerwehrleute, beherzte Burschen, stürzten sich auf ihn, entwanden ihm die Pistole.

Einer der Gejagten im Gewerbe bekannt als Knorpelkopp springt auf Jockel zu und haut ihm, dem nun Wehrlosen, geschmeidig ein blaues Auge.

Knorpelkopp (auch Knochenkopp oder Knörpli genannt wegen seines abgemagerten Gesichts) war bekannt für sein hochgradig nervöses Wesen. Von ihm stammt der legendäre Spruch:

 

"Ich seh ja aus wie eine alte Mistsau!"

zickig aufheulend geäußert als er einmal das Gefühl hatte er habe sich übermäßig eingeschmutzt. Daraufhin hatte er die Kette der Monteure beim Vertikaltransport von Gerüstmaterial per Hand (immer anstrengend, nie besonders) verlassen und auch gleich die Baustelle.


Jockel wurde nach Hause geschickt, tauchte am übernächsten Tag mit dem blauen Auge (heute bekannt als Hellersdorfer Monokel) auf einer Baustelle in Berlin wieder auf und erzählte ohne sich zu schonen den Vorfall. Ein echter Rüster, der bereit ist ohne Rücksicht auf sich selbst den Vorrat an Legenden für das Gewerbe zu mehren.

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