W E I S T Ü M E R
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Die Lesbarkeit der Welt (Schläge ins Gesicht)

 

Es könnte gut Eichendorf gewesen sein der gesagt hat man solle in die Welt gehen weil sie ein Buch sei, und lesen sollten wir es weil sich der Plan des Schöpfers darin enthülle. Nun, ich bin mir eher unsicher daß es sich so verhält, jedoch weiß ich daß Bücher in der Welt sind als ihre wichtigen Bestandteile.

Bücher sind höfliche Vorrichtungen weil sie sich meist im geschlossenen Zustand befinden und so den potentiellen Benutzer nicht direkt anspringen. Aber da ist ja noch die bucklige, schamlose Verwandtschaft der Bücher und die macht – zumindest in der Zivilisation – die Welt lesbar.

Wir sind textgefüllten Vorrichtungen ausgeliefert – Schildern, Plakaten, Anzeigegeräten mechanischer oder elektronischer Art – sind dauernd aufgefordert zu lesen. Texte sind das, kürzer oder länger, meist mit Aufforderungscharakter, Kondensate von Geschehen oder Mangel an Geschehen anderswo in der Welt.

 

Einem unbezwingbaren Zwange nachgebend unternahm ich – mit dem Placet meiner Frau – eine kurze Reise nach Linz. Alleine, weil mich niemand begleiten wollte.

So sagte ich meinem Lebensschifflein es solle den Anker lichten, die Leinen lösen und mich donauabwärts nach Linz tragen.

Dort nämlich gab es zum 200. Geburtstag von Johann Baptist Reiter zwei Ausstellungen seiner Bilder. Reiter gehört zu den Malern in deren Werk ich mich schon beim Ansehen des ersten Bildes gründlich vergafft habe. Ich hatte nicht damit gerechnet hatte daß ihm, einen Künstler aus dem Biedermeier, eine eigene derart umfassende Ausstellung zuteil werden würde. Reiter ist ein Sohn Linz'.

Diese Ausstellung war auf zwei Örtlichkeiten verteilt, im Schloßmuseum zeigte man die Kinder-Bilder des Malers dazu Gegenstände aus der Kinderwelt des Biedermeier.

Anrührend und gelungen.

Eine Vitrine zeigte unter anderem ein aufgeschlagenes Buch aus dieser Zeit (etwa 1850) das Anekdoten und Schnurrpfeifereien für Knaben enthielt. Ein kurzer Text daraus:

 

Zwei Freunde unterhalten sich. Der eine scheint heißblütig zu sein. Das Gespräch kommt auf Touren, wird lebhaft, wechselt einseitig ins Aggressive. Der Heißblütige steigt eine Argumentationsebene höher und schlägt seinem Freund wuchtig ins Gesicht.

“War das nun Ernst oder Spaß?“ fragt der Empfänger der Geste.

“Ernst!“ sagte der Angesprochene.

“Gut“ sagt der Freund “gut, weil ich nämlich keinen Spaß verstehe!“

 

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Zwei Gesellen sind unterwegs in fremden Landen, in einer Gegend die hauptsächlich aus Sand besteht. Sie werden (in der Geschichte) als Freunde bezeichnete, mental sind sie jedoch sehr unterschiedlich veranlagt.

Sie ziehen durch den Sand, der eine steckt diese mühselige Ödnis schlechter weg als der andere.

Deshalb haut er seinen Freund im Verlauf einer sich ergebenden Argumentation voll ins Antlitz. Das Opfer sagt nichts, bückt sich und schreibt mit dem Finger in den Sand:

“Heute hat mein Freund mir ins Gesicht geschlagen.“

Sie ziehen weiter und kommen nun in eine Gegend die aus Felsen und Sumpflöchern besteht. Das Opfer vom Vortag fällt in eins von diesen.

Der Freund, der Schläger von gestern, zögert nicht, bückt sich und zieht seinen Gesellen wieder heraus.

Der nimmt nun einen Stein und ritzt damit etwas in einen Felsen:

“Heute hat mein Freund mir das Leben gerettet!“

Die Geschichte bricht nun mehr oder minder ab, das heißt sie geht – was zu erwarten war - in den belehrenden Teil über, Gewalttaten sind anscheinend so zu dokumentieren daß die Dauerhaftigkeit des Dokuments nur gering ist, während die Guttat eine Dokumentationsweise erfordert die aufwendig und zeitraubend ist.

 

Diesen Text fand ich als ich durch Außenbezirke von Linz stromerte um die Zeit bis zur Eröffnung des zweiten Museums zu überbrücken. Mein ziemlich zielloser Weg führte mich an einem Kirchlein (später eruiert als die Martinskirche) vorbei das sich als der älteste Kirchenbau Österreichs (vorkarolingisch) herausstellte. In einem Schaukasten zur Straße hin hing ein Plakat das obenstehende Geschichte(!) enthielt.

Den Katalog zu der Ausstellung hatte ich mir bereits in Berlin gekauft, weil meine Frau – als Buchhändlerin - in der Lage war mir einen Preisvorteil zu verschaffen. Als ich von meiner Reise zurückkam schloß sich eine weitere Reise an (deren Ergebnis an anderer Stelle berichtet wird) weswegen ich erst zum Lesen des Katalogs kam als ich diesen Text schon weitgehend ausformuliert hatte.

Setzte mich also abends in den Sessel, entfernte die Schutzhülle des Katalogs und begann zu lesen. Und:

Auf Seite 16 des Katalogs finde ich folgenden Satz:

"Für ihn (Ferdinand Waldmüller) der hohe moralische Ansprüche an seine Bildthemen stellte und oft nicht auf den moralischen Zeigefinger zu verzichten bereit war, muß Reiters unmittelbarer, völlig wertfreier Realismus schockierend gewesen sein. Ein derart "freches" Werk wie die 'Badenden Mädchen' hätte wohl auch er als Schlag ins Gesicht empfunden(....)."

Ich sitze da, sicher in meinem Sessel wie das Ei im Eierbecher, und überlege: soll ich das Gefühl haben ich sei entronnen, mein Gesicht sei entronnen, keiner der dort üblichen Schläge hat es getroffen.

 

Aber Linz bietet mehr und weil ich schon hier bin ergreife ich die Gelegenheit auf der steilsten Straßenbahnlinie der Welt (ohne Hilfsmittel wie Zahnräder oder ähnlichem) auf den Pöstlingberg hochzufahren. Und was finde ich dort oben? Eine Kirche und vor der Kirche einen Schaukasten in welchem folgender Test angeboten wird.

 

Nur ein Traum?

Die Wallfahrt auf den Pöstlingberg begann mit einem Traum: Franz Obermayr, einem frommen Ausgeher (sic!) bei den Linzer Kapuzinern erschien darin dreimal die Gottesmutter. Auf einem hohen Wolkenthron saß sie über Linz und segnete die Stadt. Also sammelte er Geld für eine Muttergottesstatue am Pöstlingberg. Kleine und große Wunder geschahen. Ein reicher Graf ließ nach der Genesung von einer schweren Krankheit schließlich die Wallfahrtskirche erbauen.

 

Was heute Wirklichkeit ist war vor kurzem noch ein Traum und mitunter erfüllt sich ein solcher ganz anders als gedacht:

 

Ein armer Mann

träumte, daß am nächsten Tage ein Mann in die Stadt kommen würde. Der würde aus ihm, dem Armen, einen reichen Mann machen. Neugierig wartete er an der Straße. Wirklich kam da der Mann von dem er geträumt hatte, ein Bettelmönch.

 

“Hast du nicht etwas für mich?“ fragte er neugierig. “warum?“ Da erzählte der Arme von seinem Traum.

“Dann ist der für dich“ sagte der Bettelmönch, “Ich habe ihn im Walde bei Lichtenberg gefunden.“ Darauf gab er ihm aus seinem Umhang einen prächtigen Edelstein. Was für ein Reichtum!

Der Mönch zog vergnügt weiter. Der Arme konnte sein Glück kaum fassen. Und doch ließ ihm das alles keine Ruhe. Die ganze Nacht brachte er kein Auge zu.

 

In der Früh schnappte er den Edelstein und lief dem Mönch hinterher. Er fand ihn weit unterhalb an der Donau schlafend bei einem Baum. Schnell weckte er ihn auf. “Hier, nimm den Edelstein wieder“ schnaufte der Arme “und gib mir dafür nur ein wenig von dem inneren Reichtum, durch den es dir möglich war dieses wertvolle Stück leichten Herzens wegzugeben.“

Donausage erzählt von Helmut Wittmann. Hermann Wittmann:

Ja, es ist ein sonderbarer Ort dieses Linz. Ich verließ es, mein Lebensschifflein schnaufte und stöhnte weil diesmal es stromaufwärts ging.

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